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Kapitel 1

„Und du bist sicher, dass die Adresse stimmt?“, will Frank wissen, als wir vor dem verlassenen Herrenhaus stehen . Ich schirme meine Augen mit der Hand ab und spähe durch die bodentiefen Fenster.

„Natürlich sind wir richtig“, fahre ich ihn an. Zähne knirschend wende ich mich ab und gehe um das Haus herum, zurück zu der imposanten Haustür.

„Cedar?“, ruft er mir hinterher. „Wo willst du nun schon wieder hin?“

Ich stoße genervt die Luft aus und ignoriere seine lästigen Fragen. Manchmal ist er so schwer von Begriff, dabei haben wir im Vorfeld alles geklärt. Wir finden das Mädchen, bestenfalls allein, klären sie über alles auf und überzeugen sie davon, mit uns zu kommen.

Hinter mir höre ich, wie der Kies unter seinen Schuhen knirscht. Franklin folgt mir eilig, um nicht allein zurück zu bleiben.

Ich presse meinen Zeigefinger so kräftig auf den kleinen, runden Klingelknopf, dass die Kuppe sich weiß verfärbt. Der metallene Knopf gibt unter meinem Druck nach, und ein gedämpftes Klingeln erklingt irgendwo hinter der massiven Holztür.

„Klar. Das hat vorhin ja auch schon so gut funktioniert“, dringt Franks sarkastische Stimme hinter meinem Rücken nach vorn, und ich werfe ihm einen vernichtenden Blick über die Schulter zu.

Knurrend hämmere ich mit den Fäusten gegen das Türblatt, das unter meinen Schlägen erzittert.

„Irgendjemand muss hier sein“, beharre ich und lasse meine Faust ein weiteres Mal gegen das Holz schnellen.

Frank lehnt sich unbeeindruckt von meinem brutalen Verhalten neben die Tür an die Wand und verschränkt die Arme vor der Brust.

„Hast du nicht gesagt, sie hat dieses Haus noch nie verlassen? Ich dachte, sie wäre sogar hier unterrichtet worden. Sollte dann nicht einer der Angestellten öffnen?“, will er seufzend wissen. Gleichgültig betrachtet er seine Fingernägel, bevor er seinen Blick wieder auf mich richtet.

Schwer atmend lasse ich die Arme an den Seiten fallen. Ich öffne und schließe immer wieder meine Hände, um den Schmerz, der sich darin ausgebreitet hat, abebben zu lassen.

„Ich verstehe das nicht“, murmle ich leise. Ein letztes Mal trete ich gegen die Tür und fauche laut auf. Was habe ich übersehen?

„So oder so, das bringt hier nichts. Lass uns ins Hotel zurückfahren und nach etwas suchen, das uns verrät, wo wir das Mädchen finden“, verlangt er. Frank stößt sich von der Hauswand ab, kommt zu mir und legt beruhigend seine Hand auf meinen Rücken.

Ich stoße den Atem aus, betrachte die geschlossene Tür und nicke widerwillig, bevor ich mich abwende.

Im Drehen werfe ich ihm den Autoschlüssel zu, den er flink auffängt, und lasse mich schwer gegen seine Seite fallen. Er drückt mir einen Kuss auf die Stirn, schiebt mich von sich, und gemeinsam laufen wir zum Wagen zurück, um zu der kleinen Pension zu fahren, in der wir uns eingemietet haben.

„Irgendetwas muss geschehen sein, sonst wäre sie noch da“, sinniere ich auf dem Beifahrersitz und lasse meine Augen über die Landschaft schweifen. „Ihre Kraft sollte sie bereits haben, vielleicht hat sie schneller begriffen, wie man damit umgeht, als wir uns das vorstellen.“

Ich lege den Daumen zwischen meine Lippen und fahre mit den Zähnen am Nagel entlang. Frank wirft mir mit erhobener Braue einen ungläubigen Blick zu.

„Das glaube ich nicht. Nicht so schnell. Sie muss jemanden haben, der sich um sie kümmert“, spricht er seine Gedanken laut aus. „Wenn wir Pech haben, ist es jemand, der ihre Kraft gegen uns einsetzen wird.“

Ich ziehe meinen Finger so abrupt zurück, dass meine Zähne aufeinander schlagen. Verdammt.

„Dann sind wir vorbereitet“, flüstere ich mit Grabesstimme. Meine Worte klingen so entschlossen, dass an ihrer Ernsthaftigkeit nicht zu zweifeln ist.

Geistesgegenwärtig wandert mein Daumen zurück zu meinen Lippen und meine Zähne nehmen ihre monotone Arbeit wieder auf.

„Wenn sie auch nur ansatzweise ist wie ihre Mutter, wäre es mir lieber, wenn sie auf unserer Seite steht, statt dass sie gegen uns arbeitet“, erklärt er und abermals fährt mein Kopf zu ihm herum. „Wir haben genug Feinde, ich fände es zur Abwechslung schön, wenn wir die Liste nicht verlängern.“ Meine Mundwinkel zucken unwillkürlich in die Höhe und ein Lächeln breitet sich auf meinen Zügen aus. Besänftigend lege ich meine Hand auf seine. Sofort wird seine Mimik weicher.

„Wir werden sie schon überzeugen, schließlich haben wir die besseren Argumente.“

„Die haben wir, trotzdem müssen wir sie erst einmal finden“, meint Frank und ich nicke.

„Das werden wir. Sie kann sich schlecht in Luft auflösen.“

„Bist du dir da sicher?“

„Am besten fangen wir bei ihrer Nanny an, die sollte wissen, wo sie abgeblieben ist“, bestimme ich, und übergehe seine Frage.

„Die und ihr Vater“, bestätigt er und drückt das Gaspedal durch.

„Ich kümmere mich um die Frau und du dich um ihren Vater. Einer von ihnen wird uns etwas verraten“, erklärt er.

„Ja, aber bitte halte dich zurück. Ich werde meine Kraft nur im Notfall anwenden. Vergiss das nicht“, warne ich ihn eindringlich, lehne mich in das Leder und schaue aus dem Fenster.

„Ich bin von Natur aus charmant und zurückhaltend, weißt du doch“, erklärt er.

Die Landschaft wird zu einem grünen Streifen, bei dem man den Busch nicht vom Baum unterscheiden kann. Auch ohne ihn anzusehen, weiß ich, dass er lächelt, und ich verdrehe grinsend die Augen..

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Kapitel 2

„Was soll das heißen, sie weiß über alles Bescheid? Wie kann sie von irgendetwas wissen?“, fragt Frank, während er vor dem Bett auf und ab geht und die Hände in die Luft wirft. Vor ein paar Minuten habe ich ihm berichtet, was ich im Krankenhaus erfahren habe. Nach einem kleinen Stopp in der Pension, haben wir unseren Schlachtplan in die Tat umgesetzt und ich habe Liam, den Vater von Rose, einen Besuch abgestattet.

Leider habe ich da ein paar Infos erhalten, mit denen wir ganz und gar nicht gerechnet haben. Anscheinend existiert ein Junge namens Joshua Wagner, der eine unbekannte Fähigkeit besitzt. Wie genau die ganze Sache mit Rose zusammenhängt, ist mir noch schleierhaft, aber ich verwette meinen Arsch darauf, dass es kein Zufall ist.

Ich stütze meine Ellenbogen auf den Oberschenkeln ab, verschränke die Finger ineinander und lege meinen Kopf darauf, während ich mit hochgezogenen Augenbrauen Franks Marsch verfolge.

„Ich verstehe immer noch nicht, wieso sie jetzt bei dem Typen ist. Selbst wenn er eine Fähigkeit besitzt, er weiß nie im Leben so viel wie wir.“

Ich zucke mit den Schultern und puste die Luft durch die Nase, bevor ich seufze.

„Das haben wir ihrer Mutter zu verdanken“, erkläre ich. Er verharrt mitten in der Bewegung und sieht mich mit einer steilen Falte auf der Stirn an. „Es würde zu ihr passen, sich so abzusichern“, spreche ich weiter, hebe noch einmal die Schultern und lehne mich dann zurück, sodass ich mich auf meinen Armen auf der Matratze abstütze.

„Vor uns?“, fragt Frank ungläubig, anscheinend nicht sicher, ob ich es ernst meine.

„Vor allen Menschen, die ihr und ihrer Familie gefährlich werden könnten.“

„Das verstehe ich nicht. Was haben wir damit zu tun? Sie wusste nicht, dass wir irgendwann nach ihrer Tochter suchen.“

„Das ist so nicht richtig“, stelle ich klar. Meine Augen sehen direkt in seine und wandern ein Stück abwärts über sein markantes Gesicht bis hin zu seinen verführerischen Lippen. „Sie sah Bilder aus der Zukunft“, berichtige ich ihn.

„Aber dann müsste sie doch wissen, dass wir keine Gefahr darstellen“, stellt er fest und stemmt die Hände in die Hüften.

„Sie sah einzelne Bilder oder Szenen. Sie konnte unmöglich wissen, auf welcher Seite wir stehen“, erkläre ich und beiße mir auf die Unterlippe, als er einen Schritt auf mich zukommt.

„Dann hat sie vielleicht dafür gesorgt, dass Rose nicht einmal mit uns redet“, spricht er meine Befürchtung aus, und ich nicke zustimmend.

„Möglich, aber wir sollten nicht gleich den Teufel an die Wand malen. Lass uns die zwei erst einmal finden.“

„Dann sollten wir herausfinden, wo der Junge wohnt“, stellt er fest, und wieder nicke ich.

„Das habe ich bereits. Es hat zwar etwas gedauert, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich seine Adresse habe.“

Ich deute mit dem Kinn zu dem Schreibtisch, auf dem der aufgeschlagene Laptop steht.

Beide Familien haben Geld wie Heu und leben äußerst zurückgezogen. Joshua ist einer der Wenigen, denen es gelungen ist, unter dem Radar zu bleiben und unentdeckt von uns anderen zu leben.

Wie der Kerl es geschafft hat, ist mir ein Rätsel, aber ich gehe stark davon aus, dass es mit seiner Fähigkeit und deren Stärke zusammenhängt.

Im Gegensatz zu Rose ist er nicht von einem Privatlehrer unterrichtet worden, sondern hat eine elitäre Privatschule besucht und anschließend Jura studiert. Was er gerade macht, habe ich nicht herausgefunden, doch das interessiert mich im Moment auch nicht besonders. Für mich ist einzig wichtig, Rose zu finden. Wenn er als Bonus mit dabei ist, habe ich kein Problem.

Sollte er uns jedoch in die Quere kommen, mache ich kurzen Prozess, und er hat schnell vergessen, wer er überhaupt ist.

Frank geht zu dem Laptop und beugt sich nach vorn, um die Adresse zu studieren. Ich beobachte jede seiner Bewegungen und mein Blick gleitet von seinen Füßen hinauf bis zu seinen Haarspitzen.

„Soll ich wieder fahren?“, fragt er und dreht sich halb zu mir um. Seine Augen leuchten auf, als er meinen gierigen Blick begegnet, und er kommt lasziv zu mir zurück.

„Ich bin mir nicht sicher, ob es Sinn macht, heute noch loszufahren“, spreche ich meine Gedanken laut aus. Ich öffne leicht den Mund, sobald er vor mir steht. Er kniet sich mit einem Bein auf die Matratze und neigt sich mir entgegen.

„Wenn das so ist, hätte ich da ein paar Vorschläge, was wir bis morgen früh machen können“, meint er, und seine Hand streicht sachte über meinen Bauch nach oben, bis sie an meiner Wange halt macht und meinen Kopf zwingt sich zu heben.

Er schiebt das durchgestreckte Bein auf die andere Seite, sodass er rittlings über mir ist. Ich weiß genau, was er vorhat. Mein Mund wird trocken, und ein Kribbeln breitet sich in meiner Magengegend aus. Noch ehe ich Einwände erhebe, drückt er seinen Mund auf meinen, und seine Zunge vollführt einen Tanz, der mein Herz schneller schlagen lässt. Es ist so leicht, alles zu vergessen, wenn er bei mir ist.

Seine Finger graben sich in meine Haare, und ich seufze lustvoll auf, während er seinen Körper schwer auf meinen senkt. Sobald er auf meinen Schoss sitzt, spüre ich seine Begierde. Es ist die Gleiche, die sich auch in mir ausbreitet.

Ein schriller Ton lässt uns auseinanderfahren, doch während ich nach dem Handy suche, das sich bemerkbar macht, lässt er sich nicht weiter stören und setzt einen feurigen Kuss nach dem anderen auf meinen Hals. Nur mit viel Mühe schaffe ich es, nach dem Gerät zu greifen, und werfe dem Display einen vernichtenden Blick zu.

Nach zwei Anläufen schaffe ich es, meine Stimme fest klingen zu lassen, und den grünen Hörer auf die rechte Seite zu schieben.

„Jasmin?“, erkundige ich mich, um auf Nummer sicherzugehen. Es wäre nicht das erste Mal, dass statt ihr Ivo dran ist, und auf den und seine nervigen Fragen habe ich gerade überhaupt keine Lust.

„Ich wollte nachfragen, ob ihr sie gefunden habt?“, platzt es direkt aus ihr heraus, und ich unterdrücke ein Seufzen, als Franks Hand sich unter mein Shirt schiebt.

„Das ist etwas komplizierter als erwartet“, presse ich heraus und schiebe Frank ein Stück von mir, um ihm Einhalt zu gebieten.

„Wie meinst du das?“, fragt Jasmin, und ich spüre ihre Besorgnis, während ich ihr die Situation erkläre.

Auf der anderen Seite des Hörers, klappert die Tastatur eines Computers und Jas berichtet mir von der Suche nach dem Wagner Jungen, die sie soeben gestartet hat.

„Kannst du das nochmal wiederholen?“, frage ich, nachdem sie endet und ich sehe bildlich vor mir, wie sie mit den Augen rollt, bevor sie die Informationen noch einmal zusammenfasst.

„Das war es dann erstmal. Wenn irgendetwas ist, meldet euch“, sagt sie eindringlich und wartet auf meine Zustimmung.

„Natürlich“, sage ich daher schnell und schließe die Augen, als Frank sich unter mir bewegt.

Mistkerl.

„Ach und Cedar?“, fügt Jas hinzu.

Was denn noch?

„Ja?“, krächze ich.

„Vergesst nicht, dass Ivo auch hier spürt, was bei euch abgeht.“ Schlagartig ist jegliches Verlangen verschwunden. Mein Körper versteift sich, bei dem Gedanken an den tätowierten Hünen, dessen Gesicht mit mehr Ringen versehen ist als der Körper einer orientalischen Bauchtänzerin. Widerwillig schüttle ich mich, um die Gänsehaut loszuwerden, die sich über meinen Körper ausgebreitet hat, und schiebe den roten Hörer zur Seite..

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Kapitel 3

Müde reibe ich mir über die Augen. Wir stehen seit zehn Minuten vor dem riesigen Gebäude, das wohl das Zuhause von Joshua Wagner darstellt, und schauen auf die verlassene Einfahrt.

„Sieht das nur für mich so aus, als wäre keiner zuhause?“, fragt Frank in seiner gewohnt ironischen Art und mustert mich unsicher. Kommentarlos steige ich aus, gehe über den Kiesweg und halte vor der großen Tür, um zu klingeln. Hinter mir höre, ich wie eine Autotür zuschlägt und ich werfe einen Blick über die Schulter. Frank ist ausgestiegen und lehnt sich mit dem Hintern auf die Motorhaube.

Zu meiner, wie auch seiner Überraschung, wird die Tür von einer Frau im mittleren Alter geöffnet, die mich mit großen Augen betrachtet.

„Kann ich Ihnen helfen?“, erkundigt sie sich. Ihre Miene zeigt Interesse, jedoch auch eine Spur von Verunsicherung. Während ich ihre Frage verarbeite, lese ich anhand ihrer Körpersprache ab, welchen Eindruck ich auf sie hinterlasse.

Ich kann nicht leugnen, dass mein Äußeres eine gewisse Anspannung in den Menschen auslöst. Sie versucht, ihre Reaktion zu überspielen, indem sie ihre Mundwinkel nach oben zu einem Lächeln zwingt, dass ihre Augen nicht erreicht.

Mit meinen 1,85m, einem Kampfgewicht von 90 Kilo und meinem bunten Körperschmuck, der ihr an meinen nackten Unterarmen entgegenleuchtet, wirke ich nicht gerade vertrauensvoll. Ich lächle ihr warmherzig entgegen und lasse all meinen Charme spielen, um sie um den Finger zu wickeln.

„Das hoffe ich. Mein Name ist Cedar Williams. Leider haben ich und mein Begleiter uns heillos verfahren. Wir müssen irgendwann die falsche Abfahrt genommen haben und sind hier bei Ihnen gelandet“, erkläre ich und deute mit dem Kinn zum Wagen, an dem Frank lehnt. Im Gegensatz zu mir, sieht er aus, wie der Traum aller Schwiegermütter.

„Wir haben keine Karte dabei und in dieser Gegend auch keinen Handyempfang.“ Ich ziehe nebenbei mein Handy aus der Jackentasche und tippe mit zusammengepressten Lippen auf das Display, während ich ihr von unten herauf einen herzerweichenden Blick zu werfe.

„Oh. Ja, das verstehe ich. Kommen sie doch herein. Mein Mann wird Ihnen sicher weiterhelfen“, meint sie, und tatsächlich wirkt sie etwas vertrauensvoller als gerade noch.

„Haben Sie etwas dagegen, wenn ich meinen Begleiter mit dazu bitte? Er merkt sich Streckenbeschreibungen einfach besser als ich.“

„Natürlich nicht“, sagt sie schnell und tritt zur Seite. Ich winke Frank heran und wende mich wieder der Dame zu.

„Vielen Dank. Ich wüsste nicht, was wir ohne Ihre Hilfe machen sollten“, schmeichle ich noch etwas. Sie lächelt mir herzlich entgegen, und in diesem Moment bin ich mir sicher, dass wir alles erfahren werden, was wir wissen wollen.

„Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“, will sie wissen, wirft Frank, der uns erreicht hat, einen kurzen Blick zu, und ihr Lächeln wird noch eine Spur breiter, während sie uns hereinbittet. Frank verzaubert sie im Handumdrehen allein mit seiner Präsenz.

Nicht einmal die kleine Narbe an seiner linken Augenbraue, die ich so sehr liebe, weil sie ihn so verwegen wirken lässt, schreckt sie ab.

Im Wohnzimmer entdecke ich ein Foto von Joshua und stecke es samt Rahmen in einem unbeobachteten Moment in meine Tasche.

„Setzen sie sich doch“, fordert Frau Wagner und ich komme ihrer Bitte dankend nach. Aus einem Getränk mit einer Wegbeschreibung wird ein kleiner Plausch mit Kaffee und Keksen.

Frank saugt sich eine Geschichte über Urlaub aus den Fingern, und so erfahren wir mit gezielt platzierten Fragen, dass der Sohnemann mit Rose für einen Kurztrip ins Ausland verschwunden ist. Die beiden haben lediglich eine kurze Notiz auf ihrem Tisch gefunden, auf der die mageren Aussagen, die sie uns entgegnen, vermerkt waren.

Obwohl ich nach bohre, haben die Wagners keine Ahnung, wie wir die Gesuchten finden.

Ich bin mir sicher, dass jemand in ihrem Kopf herumgepfuscht und die Erinnerung, die wir brauchen, geändert oder entzogen hat. Wahrscheinlich war es der Junge selbst. Das würde die Aussage von Liam untermauern, doch leider bedeutet das auch, dass Joshua Wagner stärker ist, als ich erwartet habe, und das gefällt mir ganz und gar nicht.

Nach einer Stunde Kaffeekränzchen sitzen wir mit einer gefalteten Straßenkarte im Wagen und rollen die Einfahrt herab. Das Ehepaar Wagner erinnert sich mittlerweile nicht einmal daran, dass die Türklingel einen Ton von sich gegeben hat. Meiner Gabe sei Dank.

Je weniger sie sich erinnern, umso besser.

In meinem Kopf kreisen die Gedanken wie in einer Achterbahn. Wo sind die beiden hin? Warum sind sie mir nichts dir nichts abgehauen? Oder wurden sie zur Flucht gezwungen? Hat man sie vielleicht entdeckt? Doch wer außer uns hat Interesse an dem Mädchen?

Ich stoße schwer den Atem aus und lege den Daumen an meine Lippen, als Frank den Wagen am Straßenrand parkt. Er schaltet den Motor ab und sieht mich abwartend an. Franklin weiß, dass sich in meinem Kopf die Gedanken überschlagen.

„Scheiße“, bricht es lautstark aus mir heraus, und ich schlage mit der Faust aufs Armaturenbrett. Wir stecken in einer gottverdammten Sackgasse.

„Beruhige dich“, redet er sofort auf mich ein, doch ehe er weiter spricht, springe ich aus dem Wagen und trete einige der Steine weg, die am Wegrand liegen.

Frank bleibt im Auto sitzen. Mit großen Schritten laufe ich die Straße entlang, drehe mich zum Wald und brülle meine Frustration heraus. Ich fahre mir mit der Hand durchs Haar und beiße mir auf die Unterlippe.

Die Wagentür öffnet sich, und ich schließe ergeben die Augen. Ich brauche Ruhe. Ein paar Sekunden, um mich zu beruhigen, tief durchzuatmen und einen neuen Plan zu entwickeln.

Frank schweigt. Er kommt nicht auf mich zu, und ich bin ihm dankbar für den Moment der Stille.

Minutenlang laufe ich auf und ab und suche in meinen wirren Gedanken nach einer Lösung, die sich mir nicht offenbart. In meinen Überlegungen gefangen, bemerke ich nicht, dass Franklin näher kommt, und schrecke zusammen, als er seinen Arm sanft um meinen legt.

„Geht‘s wieder?“, will er wissen und sucht meinen Blick. Ich hasse es, wenn er das macht.

Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, mich auf die Suche zu konzentrieren, wenn er mich mit seinem Duft einlullt und seine braunen Hundeaugen meinen Geist in Sittenhaft nehmen.

„Nein“, knurre ich, lege meine Arme um seinen Körper und drücke die Stirn gegen seine.

„Wir werden sie finden“, flüstert er ruhig, und ich spüre, wie meine Wut sich verflüchtigt.

„Wenn der Junge seine Eltern manipuliert hat, haben wir keine Chance.“

„Sie wissen nicht, dass wir sie suchen. Die beiden haben keinen Grund, ihre Spuren zu verwischen. Wir finden einen Weg.“ Franklin hat mehr Zuversicht in seinem Inneren als ich in meinem kleinen Finger. Ich nehme einen weiteren tiefen Atemzug, und schon scheint die Situation nicht mehr ganz so verloren.

„Komm wieder ins Auto“, fordert er mich auf und legt bereits seine Hand auf meinen unteren Rücken, um mich anzuschieben. „Ich habe eine Bleibe in der Nähe gefunden, die ein hervorragendes Mittagessen anbietet. Nach einer Mahlzeit sieht die Welt schon wieder anders aus.“ Er lächelt mich aufmunternd an, und ich schüttle leicht den Kopf. Frank ist die einzige Person, die es schafft, mich derart schnell runterzubringen.

Ich werfe ihm einen dankbaren Blick zu und trotte neben ihm her, bis wir den Wagen erreichen. Ich öffne die Tür, lasse mich auf den Sitz fallen, und sobald er hinter dem Steuer Platz genommen hat, ziehe ich ihn zu mir herüber, um ihm einen Kuss auf die Lippen zu hauchen.

Er lächelt mich versonnen an, als ich von ihm ablasse, wendet sich dem Lenkrad zu, und lässt den Motor aufheulen.

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Kapitel 4

Auch nach zwei Tagen konnten wir keinen weiteren Hinweis finden, der uns verrät, wohin Rose und Joshua verschwunden sind. Frustriert schließe ich den Laptop und lasse meinen Kopf in den Nacken fallen. Mit geschlossenen Augen gehe ich den ehemals so glorreichen Plan durch.

Wir fliegen nach Deutschland, finden Rose, überzeugen sie davon, dass sie mit uns kommt, klären sie über ihre Gabe auf und verschwinden mit ihr. Warum konnte es nicht ausnahmsweise mal einfach sein? Wieso funktioniert nicht ein Plan?

„Weil immer etwas Unvorhergesehenes geschieht“, raunzt mein Unterbewusstsein mich gehässig an und schnalzt mit der Zunge. „Weil du nie den Faktor X mit einbeziehst“, ätzt es weiter. Ich hebe die Lider, und mein Blick liegt auf der Tür des kleinen Kühlschranks, der monoton brummt. Ob ich mein Hirn für den restlichen Tag mit dem Alkohol aus der Minibar ruhigstelle?

„Wenn wir Rose nicht finden, sollten wir sie besser kennenlernen“, ruft Frank aus dem Badezimmer in meine Überlegung, und ich runzle irritiert die Stirn.

„Und wie stellst du dir das vor?“

„Wir schauen uns in ihrem Palast um“, entgegnet er, als wäre ein Einbruch das Normalste auf der Welt. „Schließlich ist niemand da. Liam ist im Krankenhaus, Rose ist verschwunden, und die Nanny ist in der Stadt“, zählt er auf und steckt seinen Kopf aus der Tür, um meine Reaktion abzuschätzen.

Ich gleite mit den Zähnen über meinen Daumen. Der Plan ist nicht der Schlechteste, auch wenn ich nicht zu 100% überzeugt bin. Ich nicke zögerlich, und Franklins Augen leuchten auf, als hätte ich in seinem Inneren einen Schalter umgelegt. Mein Mund verzieht sich bei seinem Anblick zu einem Schmunzeln, und ich schüttle den Kopf.

„Echt? Dann lass uns direkt aufbrechen.“ Splitternackt hechtet er ins Zimmer, zieht die Tasche aus dem Schrank und wirft die wenigen Habseligkeiten hinein, die er im Raum verteilt hat.

Ich lache lauthals anhand seiner überstürzten Eile, stehe auf und lege meine Hände auf seine Schultern, um ihn zu bremsen.

„Wenn wir jetzt aufbrechen, kommen wir erst heute Abend dort an, das hat nicht viel Sinn“, entgegne ich. „Außerdem solltest du dir erstmal was anziehen, bevor du hier raus marschierst“, sage ich und meine Augen rutschen automatisch an seinem Körper nach unten.

Er hebt mein Kinn an und zwingt mich dazu, ihm wieder in die Augen zu sehen.

„Wir schlafen dort, nachdem wir eingebrochen sind“, hält er dagegen, und ich ziehe eine Braue nach oben.

„Wir kennen die Sicherheitsvorkehrungen nicht. Was, wenn die Polizei nach fünf Minuten auf der Matte steht?“

„Dann löschst du deren Gedächtnis, und sie verschwinden wieder.“

„Das funktioniert nur, wenn wir nicht vorher erschossen werden.“

„Sei doch nicht so pessimistisch. Was ist mit Jas? Kann die sich nicht darum kümmern?“, mault er, löst sich von mir und schlüpft ohne Boxershorts in seine Jeans.

Ich schiebe den Gedanken, dass er das gerade getan hat, zur Seite und konzentriere mich auf seine Einbruchpläne.

„Ich hatte vor, sie und Ivo aus der ganzen Geschichte so weit wie möglich herauszuhalten.“

„Ach komm schon“, quengelt Frank und hält mir bereits mein Handy vor die Nase.

„Von mir aus“, ergebe ich mich, schnappe das Gerät und schreibe Jasmin eine Nachricht. Frank klatscht begeistert in die Hände und grinst wie ein Honigkuchenpferd von einem Ohr bis zum anderen.

Ich fasse es nicht, dass ich dieser verrückten Idee zustimme. Franklins Gabe besteht darin, mich um den kleinen Finger zu wickeln. Er ist zwar nicht mit einer speziellen Superkraft ausgestattet, hat aber dennoch einiges auf dem Kasten.

Gemeinsam verlassen wir die Pension und fahren zurück zum Anwesen von Rose und Liam.

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Kapitel 5

„Und du bist dir ganz sicher, dass wir den Alarm nicht auslösen?“ Franklins Stimme ist gedämpft, als er sich zu mir umdreht.

„Das hat Jasmin jedenfalls geschrieben.“

„Aber bist du dir sicher?“

Meine Güte, es war doch sein Vorschlag hier einzubrechen. Ich verdrehe die Augen, bevor ich ein gekünsteltes Lächeln aufsetze und zwischen zusammengebissenen Zähnen, „Gib jetzt diesen verdammten Code ein“, zische. Ungeduldig wippe ich mit dem Fuß auf und ab.

„Ist ja schon gut.“ Beleidigt wendet er sich ab und drückt mit dem Finger endlich die Zahlen auf dem Tastenfeld vor seiner Nase. Sobald er mit Raute bestätigt, springt die Tür vom Lieferanteneingang auf. Er pustet die Luft aus, als hätte er soeben eine Bombe entschärft, und setzt einen Fuß über die Schwelle.

Ich schiebe ihn an, um die Tür hinter mir zu schließen, und wiederhole die Ziffernfolge auf dem Display im Flur.

Das Lämpchen vom Überwachungssystem springt auf Grün, und Frank wischt sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Ich betätige unterdessen den Lichtschalter und kneife geblendet die Augen zusammen.

„Das war leichter als gedacht. Bei einem solchen Haus hätte ich zumindest einen Wachhund erwartet“, erklärt Frank, der die erste Tür zu seiner Rechten aufstößt und hineinspäht.

„Der wäre verhungert. Komm, lass uns ein Zimmer suchen, in dem wir nicht auffallen“, fordere ich ihn auf und übernehme die Führung.

Wir durchqueren das untere Stockwerk ohne Erfolg. Ein Raum war verschlossen und ansonsten war nicht mehr als eine Sitzecke in einem Büro zu finden. An der Treppe angekommen, die uns in die erste Etage führt, bleibe ich stehen und drehe mich nach Frank um. Der steht in einer Nische des weitläufigen Flurs und betrachtet eine Vase, deren Blumen vertrocknet sind und auf einem kleinen, fragil wirkenden Tischchen thront.

„Lass die Finger von dem Ding“, warne ich ihn, und er zuckt, mit einem Blick zu mir, ertappt zusammen.

„Ich glaube, das ist eine Ming-Vase“, flüstert er ehrfürchtig. Seine Hand streckt sich dem Porzellan entgegen.

„Fass sie nicht an und komm her“, fauche ich. „Ich meine es ernst.“ Endlich lässt er den Arm sinken und bewegt sich mit kleinen Schritten auf mich zu.

„Ich wollte nur den Stempel suchen“, mault er, und ich unterdrücke vergebens ein Grinsen. Frank hat viele Stärken, doch bei filigranen und zerbrechlichen Gegenständen kommt keine davon zum Vorschein. Er meckert wie eine Bergziege, doch als er das Zimmer sieht, das ich soeben geöffnet habe, verstummt er.

„Denkst du, das gehört ihr oder ihrem Vater?“, fragt Frank staunend, und ich gebe zu, dass sogar mir im ersten Moment die Worte fehlen.

Das Zimmer, wenn man es als solches bezeichnen mag, ist riesig. Ich wette, das sind knapp 20 Quadratmeter.

Scheiße, meine erste Wohnung war kleiner. Durch die bodentiefen Fenster fällt das verbliebene Tageslicht herein, und wir haben einen eindrucksvollen Ausblick auf die Hofeinfahrt. Das dunkle Echtholzparkett ist auf Hochglanz poliert und knarrt an einigen Stellen. Die Wände sind in dezenten Grau- und Weißtönen gestrichen, und neben einem riesigen Schrank reiht sich eine kleine Arbeitsecke und ein ausladendes Bett.

„Ich wette, dass hinter der Tür dort ein Bad ist“, meint Frank von einem Ohr zum anderen grinsend und eilt auf die besagte Tür zu.

Ein freudiger Aufschrei ertönt und zaubert auch mir ein Lächeln aufs Gesicht. Ich weiß nicht, was er und Badezimmer für eine Verbindung haben, aber Franklin verbringt Stunden darin, ohne fertig zu werden. Er dreht sich zu mir und strahlt mich an wie einen riesigen Eisbecher. Mit großen Schritten eilt er zum Bett und drückt mit der Handfläche auf die Decke. Mit hüpfenden Augenbrauen dreht er sich zu mir.

„Das ist besser als jedes Hotel. Hier bleibe ich gerne ein paar Tage“, spricht er aus und lässt sich rückwärts auf die Matratze fallen.

„Wir sind nicht zum Urlaub hier, sondern um Informationen zu sammeln“, entgegne ich, stelle die Tasche neben dem Bett ab und werfe meine Jacke über den Stuhl.

„Das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden, sage ich immer“, säuselt er und klopft süffisant auf die freie Seite des Bettes.

„Das hast du dir ja schön ausgedacht.“

„Als würde dir der Luxus nicht gefallen“, stellt er fest, und ich sehe, wie sich seine Augen hungrig an mir nach unten arbeiten.

„Es gehört uns nicht. Gewöhne dich besser nicht zu sehr daran.“ Ich setze mich auf den Stuhl zu meiner Jacke und streife mir die Schuhe von den Füßen.

„Wärst du nicht einer der Guten, könnte uns so etwas ganz leicht gehören.“ Er stützt sich auf den Ellenbogen ab und schaut zu mir. „Wir suchen uns ein schönes Haus, du löschst das Gedächtnis des Besitzers, und voila, es gehört uns.“

„Die Guten“, knurre ich und stehe auf. „Ich suche jetzt nach ihrem Zimmer.“

„Was?“ Er reißt die Augen auf. „Ich dachte, wir fangen erst morgen an. Komm zu mir. Das Bett ist viel zu groß für einen allein.“

Ich schüttle den Kopf und gehe zur Tür. Im Rahmen drehe ich mich noch einmal zu ihm um und deute auf den Raum seiner Träume. „Geh ein bisschen im Bad spielen, da brennst du doch bestimmt schon darauf.“

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