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Lost Secret

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Kapitel 1

Dunkelheit umfängt mich, kaum dass ich die letzte Sprosse betrete, und meine Hände tasten blind nach dem Schalter. Der Dachboden wird von fahlem Licht geflutet und allerlei Gerümpel wird sichtbar. Auch die Truhe, nach der ich gesucht habe. Der Staub kitzelt mir in der Nase, sobald ich den schweren Deckel zurückschlage. Schnell kneife ich sie mit den Fingern zusammen, doch ich war zu langsam.

Hatschi.       

„Joana?“, höre ich eine Stimme von unten und ich seufze leise auf. Der Plan war, unentdeckt zu stöbern.

„Joana?“, ruft meine Mutter energischer. Es kann sich nur um Sekunden handeln, bis sie die Leiter sieht, die zum Dachboden führt.

„Ich komme gleich“, brülle ich ihr mit einem letzten Funken Hoffnung entgegen. Schon schiebt sich ihr dunkelblonder Haarschopf durch die Luke.

„Was machst du hier?“, wünscht sie mit zusammengekniffenen Augen zu wissen, und schaut sich suchend um, bis sie sich an das schummrige Licht gewöhnt hat.

„Ich wollte mir deine alten Kleider anschauen. Die Mottoparty nächste Woche, weißt du noch? Ich habe dir davon erzählt.“

„Und dann suchst du ausgerechnet zwischen dem alten Zeug?“ Ihre Stirn zieht sich kraus und sie erklimmt das Ende der Leiter, bis sie auf den knarzenden Dielenbrettern steht.

„Ja, wo denn sonst? Das Thema ist Retro und deine Kleider sind perfekt“, entgegne ich, um einen freundlichen Ton bemüht. Ich will nicht genervt klingen, das würde lediglich Ärger provozieren. Es hat keinen Sinn, einen Streit vom Zaun zu brechen.

„Du hast genug Kleider in deinem Zimmer. Da ist bestimmt etwas dabei, was du nutzen kannst.“

„Das Thema ist retro“, wiederhole ich mit mehr Nachdruck.

„Das habe ich verstanden.“ Sie zieht die Augenbrauen in die Höhe und verschränkt ihre Arme vor der Brust.

„Die Klamotten sind retro.“ Ich deute demonstrativ auf die geöffnete Truhe vor mir.

„Nicht für mich.“ Sie schnaubt durch die Nase. „Ich möchte nicht, dass du davon etwas anziehst. Und dass du hier herumstöberst, auch nicht.“

„Aber Mama!“

„Ich habe nein gesagt. Das Zeug dort drin ist Vergangenheit und soll es auch bleiben“, bestimmt sie und funkelt mich herausfordernd an.

Da ist es wieder, das leidige Thema Vergangenheit. Ich kann alles mit ihr besprechen, nicht aber über Zeiten, die längst vorbei sind. In der Regel ist alles, was vor meinem fünften Geburtstag stattgefunden hat, tabu.

Was damals geschehen ist?

Mein Vater ist verschwunden. Nun ja, so drücke ich es aus. Ihrer Meinung nach hat er uns verlassen. Die vagen Erinnerungen, die ich an ihn habe, verblassen mit jedem Jahr mehr, und sie hat es stets vermieden, mir von ihm zu erzählen. Das Einzige, was sie mir über ihn verraten hat, ist, dass ich sei wie mein Vater. Natürlich nur, wenn mein Handeln nicht ihren Vorstellungen entspricht. Dazu setzt sie einen ganz besonderen Blick auf, der mir einmal mehr zeigt, dass sie bei meinem Anblick immer wieder an ihn erinnert wird.

Je nach Betrachtungsweise verstehe ich sie. Die dunkle Mähne, vollen Lippen und der karamellfarbene Teint sind eindeutig von ihm. Meine blauen Augen, die gerade Nase und die Wellen im Haar hat sie mir jedoch vererbt.

„Mach sie zu und komm runter. Du hast mir vorhin versprochen, die Küche aufzuräumen.“ Mit diesen Worten macht sie auf dem Absatz kehrt und verschwindet aus der Öffnung, als wäre sie nur meiner Fantasie entsprungen. Ich starre ihr mit offenem Mund hinterher. Ihr Wort ist Gesetz und ich habe keine Chance, dagegen anzukommen. Das heißt jedoch nicht, dass ich ihrem Befehl auf der Stelle Folge leisten muss.

Kopfschüttelnd wende ich mich wieder den Schätzen zu und hole eines der Kleider heraus, um es mir genauer anzusehen.

Jackpot.

Es ist dunkelblau mit weißen Punkten und hat einen weit ausgestellten Rock. Sofort erinnert es mich an ein maritimes Rockabilly Kleid. Fehlt nur der Petticoat. Grinsend lege ich es auf einem der Kartons neben mir ab.

Kaum zu glauben, was sich alles auf einem Dachboden finden lässt.

Das Nächste, das ich der Kiste entlocke, ist ein waldgrünes Charleston Kleid und meine Augenbrauen wandern überrascht in die Höhe. Staunend streiche ich mit den Fingern über die Fransen.

„Nicht schlecht, jetzt noch eine Federboa und ein Stirnband und das Outfit ist perfekt.“

Nie im Leben hat meine Mutter dieses Kleid getragen, das muss einige Jahre älter sein.

Ein weiteres Mal wühle ich in der Truhe und greife nach hauchdünnem Tüll. Ehrfürchtig ziehe ich den dunkeln Stoff in die Höhe und bewundere die feine silberne Stickerei auf der Vorderseite, die sich von der Brust bis zur Taille und über die langen Ärmel windet.

„Wahnsinn.“

Der Tüll, der sich um den geschmeidigen Rock bauscht, zieht sich bis nach oben zu einem Stehkragen, der am Hals geschlossen ist. Dort findet sich eine winzige Öffnung, durch welche die Haut sichtbar wird.

Sprachlos gleiten meine Hände über meine Ausbeute und ich weiß, dass ich nicht nur das gesuchte Motto-Kleid gefunden habe, sondern – viel wichtiger – mein Abschlusskleid in den Fingern halte.

Behutsam hole ich das gesamte Schmuckstück hervor, um es mir anzuhalten, und höre ein dumpfes Poltern im Inneren der Kiste. Neugierig lege ich den bodenlangen Traum aus schwarzem Stoff zur Seite. Vorsichtig schiebe ich den Kleiderstapel auseinander, bis meine Augen ein kleines Papierbündel fixieren, welches mit einer Schnur zusammengehalten wird.

„Was ist das denn?“, flüstere ich.

Meine Fingerspitzen berühren beinahe das bräunliche Papier, da dringt die resolute Stimme meiner Mutter an meine Ohren. Diesmal ist klar, dass ich die Zeit nicht länger aufschieben darf. Schnell lege ich die Kleider zurück und schließe den Deckel. Sobald ich bei der Dachluke angekommen bin, schalte ich mit einem letzten Blick auf die Holzkiste das Licht aus, klettere vorsichtig die Sprossen hinab und schließe die Öffnung, indem ich die Leiter nach oben schiebe.

„Morgen“, flüstere ich mit einem sehnsuchtsvollen Blick zur Decke und unterdrücke ein glückliches Grinsen.

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Kapitel 2

Zwei Tage.

Zwei ganze Tage hat es gedauert, bis ich allein zu Hause und in der Lage bin, den Dachboden zu stürmen. Ich konzentriere mich auf jegliches Geräusch im Haus und mein Herz schlägt in einem unruhigen Takt, während ich die begehrten Kleider aus der Truhe ziehe. In den vergangenen 48 Stunden hat sie mich nicht aus den Augen gelassen und ich bin mir sicher, dass sie sogar mein Zimmer durchsucht hat, um sicherzugehen, dass ich mich wirklich an ihre Anweisungen halte.

In diesem Moment ist sie beim Einkaufen und so nutze ich die einzigen freien Minuten. Seit meinem Ausflug unters Dach überhäuft sie mich mit Aufgaben, die keinen Aufschub erlauben. Die Entrümpelung des Kellers, Gartenarbeit oder das Putzen ihres Autos sind nur ein paar ihrer kreativen Einfälle.

Der seidige Stoff des schwarzen Kleides gleitet über meine Handfläche und ich ziehe ehrfürchtig die Luft ein. Vorsichtig schiebe ich den rechten Arm darunter und drapiere das Charleston Kleid darauf, um beide mitzunehmen. Anschließend greife ich nach dem Deckel, um die Truhe zu schließen, da fällt mein Blick auf das Bündel Briefe am Boden.

Das hätte ich fast vergessen.

Schnell greife ich nach dem Papierstapel.

Meine Fußsohlen trommeln auf dem Boden, während ich mich geschwind auf den Weg in mein Zimmer begebe, um es zu verstecken. Anschließend sprinte ich in Moms Schlafzimmer und hänge die Kleider nach hinten in ihren Schrank.

Bereits in jungen Jahren habe ich herausgefunden, dass ich, wenn ich etwas vor ihr verbergen will, es am besten direkt vor ihrer Nase platziere. Kaum hängen die Fundstücke auf dem Bügel, höre ich, wie die Haustür zugeschlagen wird.

Verdammt, das war ein flotter Einkauf.

„Schatz? Ich bin wieder da“, flötet sie und ich eile ihr entgegen.

„Da warst du aber schnell. Kann ich dir helfen?“

„Gern. Es sind noch zwei Tüten im Kofferraum, Liebes.“ Solche Kosenamen hat sie nur für mich vorgesehen, wenn sie besonders gute Laune hat oder ich mich wie die Bilderbuchtochter verhalte.

Argwöhnisch begutachte ich sie. Sie lächelt mir verschwörerisch entgegen, während sich ein mulmiges Gefühl in mir ausbreitet.

Mit schnellen Schritten gehe ich nach draußen, schnappe mir die Einkaufsbeutel und bringe sie ins Haus.

„Ist beim Einkaufen irgendwas passiert?“

„Ich habe deinen Lieblingsjoghurt bekommen“, entgegnet sie unschuldig und meine Augenbrauen wandern langsam in die Höhe.

Oje, wenn sie etwas Derartiges macht, ist die Kacke richtig am Dampfen.

„Ähm, Danke?“

„Ich habe mir Gedanken gemacht, weißt du.“

Oh, oh.

„Worüber denn?“

Das Gefühl wächst zu einem großen, bösen Ball zusammen, und macht es sich in meinem Magen gemütlich.

„Nächste Woche ist deine letzte Schulwoche und dann beginnt der Ernst des Lebens“, setzt sie an und zu dem Ball gesellt sich Übelkeit gepaart mit Unsicherheit.

„Der Ernst des Lebens? Ich habe erst einmal Sommerferien und ab Herbst starte ich mit dem Studium.“ Die Erinnerung ist eigentlich überflüssig, denn sie hat meine Pläne bereits abgesegnet.

„Genau und mir ist aufgefallen, dass wir diesen Sommer die letzte Chance haben, Zeit miteinander zu verbringen.“

O nein. Mein Magen gibt ein missbilligendes Geräusch von sich, das meiner Kehle nicht entrinnen darf. Schmerzhaft kralle ich die Finger in die Arbeitsplatte und warte darauf, dass sie weiterspricht.

„Und das bedeutet?“, bohre ich nach, nachdem sie nicht fortfährt.

„Das bedeutet, dass ich uns Urlaub gebucht habe“, jubelt sie mir freudestrahlend entgegen.

Ich bin mir sicher, dass mir meine Gesichtszüge entgleisen. „Du hast was?“

„Wir fliegen in ein paar Tagen nach St. Tropez zum Wellnessurlaub. Zwei Wochen. Nur du und ich“, sprudelt es aus ihr heraus und vor mir bauen sich schreckliche Bilder auf.

Das ist nicht ihr Ernst!

„Nach St. Tropez?“, wiederhole ich mit kaum vernehmbarer Stimme.

„Ja.“ Eine steile Falte bildet sich auf ihrer Stirn.

„14 Tage?“

„Ja genau.“

„Du und ich?“

„Wieso wiederholst du alles? Freust du dich gar nicht? Ich dachte, das ist die Gelegenheit für ein paar letzte schöne Tage.“ Ihr Tonfall ändert sich merklich Richtung Gefrierpunkt.

„Ich kann es nur nicht glauben“, stoße ich schnell aus.

„Eigentlich wollte ich dich überraschen, aber ich konnte mich nicht zurückhalten.“

„Keine Sorge, die Überraschung ist dir gelungen“, bringe ich heraus.

„Wir lassen uns massieren, machen gemeinsam Sport und …“, zählt sie auf und ich schallte gedanklich ab.

Sie hat mich im wahrsten Sinne des Wortes kalt erwischt.

„Dir ist schon klar, dass ich nicht verschwinde, nur weil ich studiere“, unterbreche ich sie.

Sie räumt den Kühlschrank ein und dreht sich nicht einmal zu mir um.

 „Natürlich, mein Schatz, aber ich weiß, wie das ist. Du hast dann keine Zeit mehr für deine alte Mutter und lebst dein eigenes Leben.“ Sie betont ihre Worte melodramatisch und verstaut den besagten Lieblingsjoghurt.

Darauf fällt mir nichts mehr ein.

„Ich gehe dann das Auto waschen“, krächze ich und bin froh, an die frische Luft zu kommen.

Meine Mutter wäre aber nicht meine Mutter, hätte sie nicht die nächste Überraschung im Petto.

„Ich war bereits in der Waschanlage. Du kannst dafür die Koffer holen und deine Sachen herauslegen. Ich will nicht, dass wir irgendetwas vergessen.“

Noch immer unter Schock wegen ihrer spontanen Idee nicke ich und drehe mich um.

Hauptsache ich komme aus dieser Küche raus – wie meine neue Aufgabe aussieht, ist mir vollkommen egal.

Das muss ich erst einmal verdauen.

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Kapitel 3

„Ein Jahr lang Schweden. Hast du das gehört? Jo? Hörst du mir überhaupt zu?“

Verdammt, ich bin total unkonzentriert. Immer noch hänge ich mit den Gedanken beim vergangenen Nachmittag. Knapp zwei Stunden habe ich mit meiner Mutter über passende Kleidung diskutiert.

„Schweden, ja.“

„Du bist überhaupt nicht bei der Sache. Was ist denn los?“, erkundigt sich Mark, mein Tanzpartner und bester Freund. Er mustert mich eingehend von unten bis oben und stoppt bei meinen Augen.

„Ich will nicht nach St. Tropez“, jammere ich und nehme einen gehörigen Schluck von meinem Bacardi Cola.

„Bitte nicht schon wieder“, stöhnt er und rollt mit den Augen.

Ich kann ihn sowas von verstehen. Sobald ich die Küche verlassen hatte, habe ich Mark angerufen und ihm mein Leid geklagt. Um ehrlich zu sein, klage ich bereits seit einer Woche und habe keine Ahnung, wie ich aus der Nummer herauskommen soll.

„Du musst es ihr sagen. Lass nicht dauernd über dich bestimmen. Lebe dein Leben.“

„Schön gesagt, Doc, das ist aber nicht so leicht.“

„Ist es wohl. Du musst es nur machen. Sprich mit ihr“, fordert er wieder.

Es ist nicht das erste Mal, dass wir über meine Mutter sprechen, bisher habe ich es jedoch nicht geschafft, mich aus ihren Klauen zu befreien.

„Erst mal muss ich mit ihr in den Urlaub.“

Er schüttelt den Kopf und drückt mir sein Glas in die Hand. „Nein, du musst trinken und dann will ich tanzen.“

In zwei Zügen habe ich es geleert und lasse mich von ihm auf die Füße ziehen.

 Der Alkohol zeigt bereits seine Wirkung und ich schwanke leicht. Mark hält mich fest in seinen Armen, während er mich durch die Gegend wirbelt.

„Erfülle mir einen Wunsch, ja?“, verlangt er und ich pralle an seine Brust.

„Ich versuch`s.“

„Vergiss für heute Abend deine Mutter und diesen Urlaub. Hab Spaß“, fordert er und sieht mir dabei fest in die Augen.

„Liebend gern.“

Nach diesen Worten wird der Abend unvergesslich. Ich bekomme Komplimente für den Dachbodenfund und tanze ausgelassen, bis mir die Füße wehtun, sodass ich die Schuhe ausziehe. Mit von Alkohol vernebelten Gedanken liege ich Stunden später neben Mark im Bett und sehe zu, wie sich die Decke über mir dreht.

„Du hast ihr geschrieben, dass du bei mir schläfst?“, durchbricht seine Stimme die Stille und ich gebe mir Mühe, bei meiner Antwort nicht allzu sehr zu lallen.

„Ja.“

„Und sie war einverstanden?“

„Ja.“

„Bist du dir sicher?“

„Nö.“

„Wo ist dein Handy?“, will er wissen und richtet sich auf, sodass sein Kopf sich über meinen schiebt und nun wie ein Brummkreisel vor meinem Gesicht wirbelt.

„In meiner Tasche.“

Ohne ein weiteres Wort rollt er über mich und kommt nicht gerade sanft auf dem Boden auf, als seine Füße lautstark auf dem Boden auftreffen. Kurze Zeit später erhellt ein Licht das Zimmer und ich drehe mich um.

„Du hast die Nachricht nicht weggeschickt, du Esel“, stellt er fest und beginnt zu lachen.

„Ups.“

„Das gibt Ärger.“

„Gib mir mal das Handy“, bitte ich und strecke meine Finger aus. Er wirft mir zwar einen undefinierbaren Blick zu, steckt mir das Gerät dann aber in die Hand.

„Was hast du vor?“

„Ich schreibe ihr, was ich von ihrer Reise halte.“

Seine Miene verändert sich und er schaut mich an, als habe ich den Verstand verloren.

„Das ist keine gute Idee.“

„St. Tropez ist scheiße. Ich fahre nicht mit. Und was in meinem Koffer ist, geht dich nichts an. Der gehört mir“, spreche ich aus, während meine Finger über die Tastatur fliegen, ohne ihn zu beachten.

„Und senden“, kommentiere ich und grinse ihn an wie eine Lottogewinnerin.

„Ich hätte es anders gemacht, aber ich bin dennoch stolz auf dich, Grashüpfer.“

„Mark?“

„Ja?“

„Mir ist schlecht.“

Der Fluch, der seine Lippen verlässt, ist der Auftakt für eine Arie, die ich in der nächsten Stunde in die Toilettenschüssel übergebe.

Immer wieder streicht er mir über den Rücken und hält mir dabei die Haare zurück. Sobald ich keinen Mageninhalt mehr habe, lege ich mich auf die Badematte und spüre, wie eine weiche Decke über mir ausgebreitet wird.

Gott ist das kuschelig.

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Kapitel 4

„Oh, verdammt.“

Mein Gehirn sucht sich gerade einen brutalen Weg nach draußen, so sehr schmerzt mein Kopf.

„Wo zum Teufel bin ich?“ Mit schweren Lidern blinzle ich ein paar Mal, um meine Umgebung auszumachen, kneife sie aber sofort wieder zusammen. Der Raum ist lichtdurchflutet und die Helligkeit brennt mir auf der Netzhaut.

„Mark?“, krächze ich, um meine Lider nicht erneut öffnen zu müssen, erhalte jedoch keine Antwort. Was zum Teufel ist vergangene Nacht geschehen? Das Letzte, woran ich mich erinnern kann, ist, dass wir über die Tanzfläche geschwebt sind und reichlich Alkohol geflossen ist.

Meine Hände tasten das unbequeme Bett ab. Statt meiner weichen Matratze fühle ich einen steinharten Untergrund. Ich komme nicht drumherum, also blinzle ich und hebe die Lider erst, nachdem sich meine müden Augen an die Umgebung gewöhnt haben.

Vor mir erkenne ich ein Waschbecken, an dem ich mich in die Höhe ziehen kann, nur um mich sofort auf den Badewannenrand hinter mir niederzulassen. Mit brummendem Schädel stütze ich mich auf den Knien ab und lasse meinen Blick über die Matte und die Decke am Boden gleiten.

Das erklärt zumindest die Rückenschmerzen. Warum lässt mich der Idiot in seinem Bad übernachten?

Mein Mund fühlt sich an, als hätte ich mit Watte gegurgelt und ein saurer Geschmack liegt mir auf der Zunge.

Ekelhaft.

Steif richte ich mich über dem Becken auf und lasse mir kühles Wasser in den Mund und ins Gesicht laufen. Am liebsten würde ich mir eine Dusche gönnen, doch zuerst muss ich schauen, was mit Mark geschehen ist und eine Erklärung einfordern.

Nicht imstande, meine Füße vom Boden zu heben, rutsche ich zur Tür und stoße sie unsanft auf. In seinem Zimmer herrscht Dunkelheit und vom Bett her ertönt ein leises Schnarchen.

„Klar, du machst einen auf Dornröschen und lässt mich auf dem Boden schlafen“, schimpfe ich, aber er zeigt keinerlei Reaktion. Langsam bewege ich mich aufs Bett zu und werfe mich neben ihm in die Kissen.

Himmlisch.

Jeder Knochen in meinem Körper seufzt glücklich auf und ich schließe für einen Moment die Augen.

„Ey, wach auf.“ Grob werde ich an den Schultern geschüttelt und ich will mich auf die Seite drehen.

„Nicht umdrehen, du musst aufwachen, und zwar sofort.“

„Lass mich“, stöhne ich und ziehe die Decke über meinen Kopf. Keine zwei Sekunden später wird sie mir wieder entrissen und ich zwinge meine Augen, sich zu öffnen.

„Fuck Jo, wir haben verschlafen“, erklärt Mark panisch.

Keine Ahnung, wovon er spricht. Wir haben Ferien. Gestern war unser letzter Tag, unser Abschluss. Was sollten wir da verschlafen haben?

Es dauert einige Sekunden, bis mir bewusst wird, wovon er spricht, und dann trifft mich die Erkenntnis wie ein Blitz. Schnurgerade schieße ich in die Höhe.

„Was?“, will ich mit schriller Stimme wissen und bereue meine plötzliche Bewegung auf der Stelle. Sofort setzen die Kopfschmerzen ein, die in meinen Schläfen pochen.

„Wir haben verschlafen. Du hättest vor über zwei Stunden am Flughafen sein sollen“, erklärt er, was mir selbst gerade klar geworden ist, und sofort bricht mir der Schweiß aus.

„Zwei Stunden? Wie zwei Stunden? Wie konnte das passieren? Ich habe extra mein Handy gestellt“, schimpfe ich und suche das Zimmer nach dem Mobiltelefon ab.

„Hier“, ist die einzige Vorwarnung, die ich bekomme, bevor der gesuchte Gegenstand auf mich zufliegt. Kaum, dass ich es in den Händen habe, stelle ich fest, dass nicht nur der Wecker ausgeschaltet ist, sondern das ganze Gerät.

„Der Akku ist leer“, flüstere ich und höre bereits die Schimpftirade meiner Mutter, die auf mich zu walzt.

Mark ist eindeutig fitter als ich. Er hüpft behände aus dem Bett, sucht nach seinem Ladekabel und schließt das Gerät an.

„Den Flieger wirst du nicht mehr bekommen“, stellt er fest, doch ich höre ihn kaum. Meine Gedanken kreisen einzig um den Ärger, den ich zu erwarten habe, und die Tatsache, dass ich mich nicht auf seinem Teppich übergeben darf. Sobald mein Akku zwei Prozent hat, schalte ich es an und werde immer blasser. Niemals endend wollende Töne erklingen.

„Gib mir das und zieh dir was an“, befiehlt mein Sandkasten-Buddy, fischt das Smartphone aus meinen Fingern und schubst mich von der Matratze. Kaum stehe ich vor ihm, macht er es sich im Bett bequem und scheucht mich mit einer Handbewegung davon.

Die Übelkeit nimmt weiter zu, mein Herz flattert in meiner Brust und um mich herum dreht sich alles, während die Stimme meiner Mutter in meinem Kopf auftaucht.

„Ich dachte, ich könnte mich auf dich verlassen, Joana.“

Mit tauben Fingern taumle ich auf die Badezimmertür zu und stocke, als mir wieder einfällt, dass ich meine Nacht auf dem Fliesenboden verbracht und deswegen noch ein Hühnchen mit ihm zu rupfen habe.

Doch ist das jetzt nicht mehr von Bedeutung. Schnell streife ich die Shorts und das weite Shirt ab, um unter die Dusche zu steigen.

„Es gibt eine gute und eine schlechte Nachricht. Welche willst du zuerst hören?“, ruft Mark mir zu, nachdem ich mit einem Handtuch um den Körper gewickelt zurück ins Zimmer trete.

„Die Schlechte?“ Unsicher ziehe ich eine Augenbraue in die Höhe, denn Mark hat seine Mundwinkel zu einem spöttischen Lächeln verzogen.

„Sie ist ziemlich angepisst, weil du nicht aufgetaucht und nicht erreichbar bist“, fasst er grob zusammen und ich schnaube durch die Nase. Eilig schlüpfe ich in einen kurzen Overall, den ich vorab bei ihm deponiert habe, und warte darauf, dass er weiterspricht.

„Die Gute ist, dass du immer noch nach St. Tropez kannst. Sie hat dir das Ticket auf den Küchentisch gelegt“, erklärt er und mir entfährt ein weiteres Schnauben.

„Als ob ich dorthin will“, fauche ich, fasse meine nassen Haare zu einem Zopf zusammen und verknote sie am Hinterkopf.

„Dann flieg woanders hin“, schlägt er trocken vor und ich runzle die Stirn.

„Wie stellst du dir das vor? Weißt du, was mich erwartet, wenn ich ihr nicht folge?“

„Du gehst zum Schalter und sagst, dass du umbuchen willst. Sei einfach spontan. Was soll schon geschehen? Du bekommst ohnehin Ärger.“

„Ja klar.“ Mit gespitzten Lippen stöpsle ich mein Handy ab und werfe ihm einen vielsagenden Blick zu.

„Ich werde jetzt zügig nachhause gehen, meinen Koffer und die Tickets schnappen und nach St. Tropez fliegen, um mir eine Standpauke sondergleichen abzuholen. Ich stehe bereits mit einem Bein im Grab. Wenn ich mache, was du vorgeschlagen hast, kannst du die Erde auch direkt auf mich schaufeln.“

„Du übertreibst“, meint er und verzieht seinen Mund zu einem wissenden Lächeln.

„Du kennst sie doch. Lass uns nicht diskutieren und drück mich lieber zur Verabschiedung“, fordere ich ihn auf und öffne meine Arme.

Er springt auf, zieht mich an seine Brust und macht damit, einem Schraubstock Konkurrenz. „Am besten bestelle ich schon mal dein Grabstein“, flüstert er und ich schubse ihn leicht von mir.

„Im Ernst. Sei einfach mutig“, beharrt er, haucht mir einen Kuss an die Schläfe und erst jetzt fällt mir brühwarm ein, welchen Fehler ich in meiner letzten Nachricht begangen habe.

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Kapitel 5

So eine verdammte Scheiße.

„Scheiße, Scheiße, Scheiße, Scheiße!“

Dieses Wort verlässt in rhythmischen Abständen meinen Mund, während ich die Haustür aufschließe und mit großen Schritten in die Küche eile.

Auf dem Weg hierher haben mir die Menschen bereits verstörte Blicke zugeworfen. Wahrscheinlich dachten sie, ich hätte das Tourette-Syndrom und allmählich bin ich geneigt, ihnen zuzustimmen.

Diese Whatsapp vergangene Nacht war ein schrecklicher Fehler und ich habe keine Ahnung, wie ich das wieder gerade biegen soll.

Selbst wenn ich meiner Mutter für die nächsten zwanzig Jahre Honig ums Maul schmiere, wird sie mich das mein Leben lang nicht vergessen lassen.

Müde schleppe ich mich, bewaffnet mit einem Smoothie, einem Apfel und dem Ticket, die Stufen nach oben in mein Zimmer. Dort lasse ich alles auf den Schreibtisch fallen und plumpse auf den dazugehörigen Stuhl.

Fuck bin ich müde.

Meine Arme landen auf dem Tisch und ich bette meinen schweren Kopf für ein paar Minuten darauf.

Leider wird mir der kleine Moment Ruhe nicht gegönnt, denn mein Handy lässt mich aufschrecken, als ein bekannter Klingelton die Stille in der Luft zerreißt.

Ein kurzer Blick genügt und ich schiebe es mit einem Stöhnen zurück in die Tasche. Mehr als den Namen „Mama“ brauche ich nicht, für den Marschbefehl. Wahrscheinlich hat sie Kameras installiert und bekommt bei meinem Anblick einen Tobsuchtsanfall.

Ehe ich mir meine Habseligkeiten schnappe, muss ich allerdings Energie tanken. Ich beiße in das Obst und nehme einen Schluck vom Smoothie. Meine Hände sind noch schläfrig und folgen den Anweisungen meines Hirns nicht richtig. Sobald ich das Getränk wieder auf den Tisch stellen will, stoße ich an die Flasche und sie kippt um. Die Flüssigkeit verteilt sich auf der Platte und läuft das Holz hinab.

„Scheiße“ – scheint wohl mein Lieblingswort zu werden.

Eilig schnappe ich mir ein paar Tücher aus der Box, die auf meiner Kommode stehen, um die Sauerei aufzuhalten.

„Na klar.“

Genervt ziehe ich die Schublade auf, um sie trockenzulegen, da fällt mein Blick auf das Briefbündel, welches ich total vergessen habe.

Neugierig ziehe ich den Stapel heraus und betrachte die alte Schrift auf dem vergilbten Papier. Meine Finger gleiten über jeden einzelnen der Buchstaben vom obersten Kuvert und stoppen, sobald ich den Namen meiner Mutter entziffere.

Elisa Santos.

Plötzlich ganz munter durch meinen Fund, beginnt mein Herz wie verrückt zu schlagen und ich öffne die Kordel. Die Briefe sind fest verschlossen, so wie es aussieht, wurden sie nie geöffnet. Anscheinend hat meine Mutter sie gesammelt und auf dem Dachboden versteckt, ohne sie je gelesen zu haben.

Mit zitternden Händen und dem Wissen, dass ich den nächsten Sargnagel in unsere Mutter-Tochter-Beziehung schlage, öffne ich den ersten Umschlag und ziehe das brüchige Papier heraus.

Die Worte ergeben keinerlei Sinn für mich.

Sie sind in einer Sprache geschrieben, die ich nicht verstehe. Neben dem Brief purzelt auch ein Foto heraus, auf dem mir ein Mann mit einem freundlichen Lächeln entgegenschaut. Sein Gesicht ist von Falten durchfurcht und seine Haut von der Sonne gegerbt. Obwohl es in Schwarzweiß ist, bilde ich mir ein, zu sehen, wie sich seine Mundwinkel in die Höhe ziehen und ich lächle dem Unbekannten unwillkürlich entgegen.

Voller Hoffnung und Spannung was ich noch finde, öffne ich sämtliche Briefe.

Ich bin mir sicher, dass die Worte Portugiesisch sind, denn die Familie väterlicherseits stammt aus der Nähe von Lissabon, und ich glaube, ein paar wenige Worte übersetzten zu können.

Auch dieser Teil der Familie wird wie üblich totgeschwiegen. Wahrscheinlich haben sie meine Mutter zu sehr an meinen Vater erinnert und sie wollte aus diesem Grund keinen Kontakt zu ihnen.

Vorsichtig sammle ich die unterschiedlichen Bilder, die aus jedem neuen Umschlag herauspurzeln und lege sie wie Tarotkarten vor mir ab. Oft sind es Gesichter, die mir merkwürdig vertraut vorkommen. Außer diesen gibt es auch Bilder, auf denen Gebäude oder die Umgebung zu sehen sind.

Neben den Fotos lege ich den entsprechenden Brief, damit ich nicht durcheinander komme. Jedes Schreiben ist mit einem Datum versehen und beginnt mit denselben Worten „Minha amada filha“.

Filha bedeutet Tochter, das weiß ich. Aber der Rest?

Kaum dass der letzte Umschlag in meiner Hand liegt, ist klar, dass er mehr enthält als einen Brief und ein Foto. Er ist um einiges schwerer.

Sobald ich das Kuvert aufgerissen habe, fällt ein massiver, rostiger Schlüssel auf die Tischplatte. Verwundert ziehe ich ein Stück Papier mit einer Adresse und ein neues Foto von einem alten Haus heraus. Die Notiz wurde unsauber abgerissen und ist ausgefranst an den Seiten. Die Schrift ist undeutlicher als in den Briefen zuvor. Wer auch immer das geschrieben hat, muss ziemlich gehetzt gewesen sein.

Was soll das?

Irritiert lehne ich mich zurück und betrachte die Adresse. Warum schickt jemand einen Schlüssel per Post? Und wieso gibt es keinen Brief dazu? Was ist mit all diesen Menschen von den Bildern geschehen?

Wieder klingelt mein Telefon und ohne aufs Display zu schauen, weiß ich, wer dran ist, und drücke auf den grünen Hörer.

„Hallo Mama.“

„Du lebst ja noch. Ich dachte schon, dein Handy wäre kaputt. Anscheinend hast du mich ignoriert“, donnert ihre ermahnende Stimme und ich zucke zusammen.

„Es tut mir leid, ich …“

„Bist du jetzt auf dem Weg zum Flughafen?“

„Ähm …“

„Du kannst am Schalter umbuchen, das habe ich extra abgeklärt.“

„Ja, das habe …“, setze ich erneut an und werde sofort wieder unterbrochen.

„Ich bin wirklich sehr enttäuscht von dir, Joana. Erst tauchst du nicht auf und dann gehst du nicht einmal an dein Handy.“

„Ja, ich …“

„Ich habe mir schreckliche Sorgen gemacht.“

„Es tut mir …“, beginne ich von Neuem, habe jedoch keine Chance.

Langsam reicht es mir. Wieso lässt sie mich nicht einen Satz beenden?

„Eine Entschuldigung hilft jetzt auch nicht mehr.“

„Mama, ich …“

„Ich werde mir von dir nicht die Laune verderben lassen. Hast du gehört?“

„Ich will doch …“

„Was du willst, ist gerade nicht von Belang. Du bist wie dein Vater. Setz dich ins nächste Flugzeug und komm her, dann reden wir über alles. Und zwar in Ruhe.“ Damit legt sie auf und lässt mich vollkommen verdattert zurück.

Verstört starre ich auf mein Display und lasse das Gespräch Revue passieren.

Sie hat mir überhaupt nicht zugehört.

Nicht einen Satz konnte ich zu Ende bringen und je mehr mir diese Tatsache bewusst wird, umso wütender werde ich.

Wieso behandelt sie mich so? Was habe ich getan? Ja, gut, ich habe verschlafen und ja, ich hätte mich gestern nicht abschießen sollen, aber ist das ein Grund, mich derartig abschätzig zu behandeln?

In mir brodelt es und nachdem meine Augen noch einmal über die Fotos vor mir gleiten, baut sich eine Idee in meinem Kopf auf. Kurzentschlossen raffe ich die Papiere, samt den Bildern und dem Schlüssel zusammen, stopfe alles in meine Tasche und verlasse mit meinem Koffer das Haus.

Es wird Zeit für etwas Neues.

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