top of page
40ABAACF-C6C9-487B-8356-366CCDD9A82E.png
40ABAACF-C6C9-487B-8356-366CCDD9A82E_edited.jpg

Kapitel 1

Es ist laut, der Bass dröhnt in meinen Ohren, während ich mich durch die Menschenmenge zwänge. Immer wieder springe ich auf, um etwas zu sehen. Es ist schwer, meine Begleitung im Gedränge nicht zu verlieren. Das gedämpfte Licht wird ab und zu von grellen Scheinwerfern durchbrochen, die mein Gesicht beleuchten.

Wieso habe ich mich nur zu diesem Abend überreden lassen?

Vor drei Stunden saß ich gemütlich auf dem Bett und hatte die Nase in ein Buch gesteckt. Was danach geschah, ist nur als Hurrikan namens 'Tamara' zu bezeichnen. Meine beste Freundin, Tamara Bryte, hat mich überfallen und zum Ausgehen genötigt. Soeben ist ihre Schwester Ella an der Theke angekommen und bestellt charmant unsere Getränke. Normalerweise ist hier nicht viel los, doch heute scheinen sich alle im einzigen Club weit und breit aufzuhalten.

„Was ist mit Tami? Warten wir nicht auf sie?“, brülle ich ihr ins Ohr, nachdem ich sie erreicht habe. Kurz nach dem Einlass habe ich meine beste Freundin aus den Augen verloren. Sie hat sich in ein ausgiebiges Gespräch mit einem der Türsteher verwickelt, und bisher ist sie nicht wieder aufgetaucht. „Nein, wir holen uns was zu trinken und treffen sie später auf der Tanzfläche. Nimm mal“, fordert sie mich auf und zwängt mir einen halben Liter Erdbeeredaiquiri mit Glitzerpalme und Strohhalm zwischen die Finger. Verdattert halte ich das Glas in den Händen und schaue sie mit großen Augen an. „Was soll ich damit?“ „Trinken. Was sonst? Komm, lass uns einen Platz suchen, von dem aus wir die Lage auskundschaften können. Ich habe bereits ein paar Sahneschnitten entdeckt.“ Sie zwinkert mir vielsagend zu und übernimmt die Führung. „Ich? Was? Ella, ich trinke nichts. Du weißt doch, dass ich keinen Alkohol vertrage“, rufe ich und folge ihr. „Ich habe darauf geachtet, es ist kaum was drin. Probiere mal. Schmeckt megalecker“, brüllt sie über die Schulter und schließt die Lippen um ihren Strohhalm. Meinem Schicksal ergebend, nippe ich an dem Getränk und keuche kurz darauf auf. Das Gebräu ist lecker, da hat sie recht, aber es hat ein paar mehr Umdrehungen, als sie mir glauben machen will. Besser, ich halte mich zurück, um nicht in einer halben Stunde total betrunken zu sein. „Hast du zufällig den Typen von vorhin gesehen? Der war echt heiß.“

„Wen meinst du?“

„Na den vom Eingang. Der an uns vorbeigegangen ist. Der wäre was.“ Ich verdrehe die Augen. Seit der Trennung von ihrem Freund ist sie auf der Suche nach 'Ablenkung'. Als wir in der Warteschlange vor dem Club standen, ist ein fremder Kerl gegen uns gestoßen. Mit rudernden Armen bin ich in die Gruppe hinter mir geraten, während er mit einem knappen, „sorry“ an uns vorbeigegangen ist. Sie kann nie und nimmer diesen ungehobelten Klotz meinen. Mir tut das Mädchen, auf dessen Fuß ich getreten bin, immer noch leid. „Du meinst nicht den, der uns geschubst hat, oder?“, frage ich entrüstet.

„Genau den.“ Sie lächelt wie eine nimmersatte Gottesanbeterin, und mein Mund klappt auf.

„Bei dem Verhalten suchst du dir lieber jemand anderen. Ich glaube kaum, dass der nett ist“, kommentiere ich leise, doch sie scheint mich trotz der Lautstärke verstanden zu haben. „Wieso? Ich brauche niemanden, der nett ist. Ich bin nicht auf eine Beziehung aus, sondern auf Ablenkung. Man, sind hier viele Leute“, stellt sie fest, und ich sehe mich um. Die Menschen stehen dicht gedrängt, und selbst auf der Tanzfläche ist es kaum möglich, sich zu bewegen.

„Da drüben ist ein freier Platz. Los komm“, ruft sie, und ich trotte ihr hinterher, wobei ich mich frage, wo sie das freie Plätzchen entdeckt haben will. An besagtem Ort stehen ein paar Fremde, die ihre Blicke über die Massen schweifen lassen. Na, das war garantiert kein Zufall. Ella verschafft uns in Windeseile zwei Hocker am Tisch, und ich stöhne innerlich auf. Tamara, wo bist du nur? Unauffällig mustere ich die beiden Fremden und muss zugeben, dass sie bei Weitem nicht aussehen wie das übliche Publikum. Sie sehen sich verdammt ähnlich. Brüder? Vielleicht sogar Zwillinge? Der Auserwählte, den Bryte bezirzt, hat eine dunkle Mähne, die ihm bis zu den Ohren reicht, und warme, braune Augen, die mich an Hundewelpen erinnern. Er ist von der drahtigen Sorte, und ich wette, dass er ein guter Läufer ist. Der andere hat kurzes, schwarzes Haar, und anhand seiner muskulösen Statur und dem breiten Rücken gehe ich davon aus, dass auch er ziemlich oft trainiert. Seine Augen wirken durch die blaugraue Farbe ein wenig kälter. Im Gegensatz zu seinem Begleiter zeigt er keinerlei Interesse an Ella oder mir. Er starrt stur auf die Tanzfläche und macht nicht den Eindruck, als sei er an einer Unterhaltung interessiert. Was bei dem Krach ohnehin nicht funktionieren würde. Die Augen seines Kollegen leuchten bei Ellas Anblick, und er hängt förmlich an ihren Lippen. Sie beugt sich ein Stück nach vorn, und ich befürchte, dass er gleich sabbert. Ella ist eine dralle Blondine und weiß, wie sie ihre Kurven gekonnt einsetzt. Genervt wende ich mich ab und bete, dass Tami endlich auftaucht. Ich bin hier so was von überflüssig. Unbemerkt gleite ich von meinem Platz und suche in der Masse an Menschen nach meiner Freundin. Ich habe keine Chance. Es sind einfach zu viele. Ungewollt schnappe ich Wortfetzen von Ellas neuer Errungenschaft auf und spitze die Ohren. „Austauschklasse“, brüllt er, gefolgt von „Schottland – Internat.“

Und dann haben sie die Kerle ausgerechnet hierher geschickt? Neugierig drehe ich mich ein bisschen zu ihnen um und beobachte, wie sie ihn anschmachtet, als wäre er die Kirsche auf dem Eisbecher. „Nächste Woche … Schule. Heute … Spaß‘, dringen weitere Worte an meine Ohren, und ich ziehe eine Augenbraue in die Höhe. Ist ihr Shirt nach unten gerutscht, oder war ihr Ausschnitt vorhin auch so tief? Ich kann mir das nicht weiter ansehen. Mit einem kräftigen Zug leere ich den Inhalt meines Glases und drücke es dem stummen Typen neben mir in die Hand. Er sieht mich irritiert an, doch ich ignoriere ihn und verschwinde kurzerhand in der wogenden Menge. Die Wirkung des Alkohols macht sich bemerkbar. Ich vergesse den Gedanken, dass der Junge bei Ella ungewöhnlich gut Deutsch gesprochen hat, während ich mit den Füßen im Takt des Liedes wippe. Es dauert nur wenige Sekunden, bis ich mich zum Beat der Musik bewege und alles um mich herum ausblende. Sagt ja niemand, dass ich auf meiner Suche nicht ein bisschen Spaß haben darf. Auch wenn der sich grundlegend von Ellas freudigen Erwartungen unterscheidet. Mittlerweile bin ich von tanzenden Leibern umgeben und je mehr ich mich bewege, umso wärmer wird es. Ein feiner Schweißfilm liegt auf meiner Haut, und meine Kehle fühlt sich trocken an.

Ich brauche dringend etwas Kaltes zu trinken. Mit den Ellenbogen bahne ich mir einen Weg aus der Masse und steuere die nächste Bar an. Die Chancen auf ein Wasser schwinden rapide, sobald ich an der Theke stehe und von durstigen Menschen umzingelt werde. Ein Wirrwarr aus Bestellungen schallt um mich herum, und nach ein paar vergeblichen Versuchen, die Aufmerksamkeit des Barkeepers zu erlangen, kehre ich um. Ohne lange zu überlegen, marschiere ich in Richtung des ruhigeren Ü-30-Bereichs.

Am besten, ich kürze über die Empore ab.

Sobald ich mich in Bewegung setze, durchfährt mich ein Schauer und meine Nackenhaare stellen sich auf. Es ist, als ob jemand mich beobachten würde. Schnell drehe ich meinen Kopf von einer Seite zur anderen, meine Augen scannen die Menschen um mich herum. Verunsichert bleibe ich stehen und sehe mich um, aber ich kann niemanden entdecken, der meine Aufmerksamkeit erregt oder mich offensichtlich beobachtet. Moment mal, ist das nicht Tamara? Ihre langen braunen Haare in Kombination mit meinem schwarzen Top würde ich überall erkennen. Bei einer Größe von 1,75 m ist sie jedoch kaum zu übersehen.

Wer ist dort bei ihr?

Das unangenehme Gefühl ist vergessen und die Neugier übernimmt. Ich mache große Schritte in Richtung meiner Freundin und winke, damit sie mich sieht. Es scheint ein fesselndes Gespräch zu sein, das sie mit dem Fremden führt. Ich nähere mich bis auf einen halben Meter, aber sie nimmt noch immer keinerlei Notiz von mir.

Der blondhaarige Kerl, der ihr gegenübersteht, ist ein wenig größer als meine Freundin und hat mir den Rücken zugewandt. Ich habe ihn noch nie gesehen. Entweder gehört er ebenfalls zu dieser Austauschklasse oder hier gibt es ein Nest an fremden Jungs. Ich tippe von hinten dem untreuen Seelewesen auf die Schulter, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen, und sie zuckt erschrocken zusammen.

„Sophiiiee“, zieht sie meinen Namen mit schriller Stimme in die Länge, als sie sich zu mir dreht. Meine Brauen wandern nach oben.

„Was machst du denn hier? Ich dachte, Ella ist bei dir, und ihr sucht euch ein paar …“, beginnt sie ertappt, verstummt jedoch abrupt, als sie einen Blick auf den Jungen neben sich wirft.

„Ich habe nach dir gesucht. Wo warst du? Und wer ist das? Stellst du mich nicht vor?“, frage ich. Unauffällig beäuge ich den Fremden.

„Äh ja. Sophie, das ist Max, also Maxwell. Er ist hier mit seiner Klasse, einer Austauschklasse aus Schottland“, stammelt sie nervös

Natürlich gehört er dazu.

Ich hebe meinen Mundwinkel in die Höhe und runzle die Stirn. Immer wieder suche ich ihren Blick, doch sie weicht mir aus. Was hat sie für ein Problem?

„Schön dich kennenzulernen Max, ich bin Sophie“, nehme ich die Sache selbst in die Hand und lächle ihm freundlich entgegen.

Anscheinend hat meine Freundin ihren Anstand vergessen. Warum stellt sie mich nicht vor? Es ist nicht ihre Art, mir neue Bekanntschaften zu verschweigen.

„Tami, alles klar?“

Sie wirkt von Sekunde zu Sekunde nervöser, also sehe ich sie mir genauer an. Leicht gerötete Wangen, große sehnsuchtsvolle Augen, geschwollener Mund. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, sie hat bis vor wenigen Augenblicken an seinen Lippen gehangen.

Moment. Langsam mustere ich den Mann an ihrer Seite und erkenne ebensolche Merkmale.

„Was ist hier los?“

Fassungslos reiße ich die Augen auf. Ich kann nicht anders als ungläubig zwischen ihnen hin und her zuschauen.

Maxwell lächelt leicht verlegen, während sie weiterhin beschämt meinem Blick ausweicht.

„Tamara? Seit wann kennt ihr euch? Was ist mit Michael?“, stoße ich aus und ziehe meine Stirn in Falten. Vielleicht verstehe ich das alles falsch. Wahrscheinlich ist es ganz anders. Gut möglich, dass sie ebenfalls Single ist und vergessen hat es mir zu sagen.

„Komm runter und mach nicht so eine Welle. Das hat nichts mit dir zu tun. Wir reden später darüber in Ordnung?“

Ihre Worte sind wie Schläge in die Magengrube und ich weiche entsetzt einen Schritt nach hinten aus.

Ähm ... Nein, definitiv nicht falsch verstanden. Sie hat nicht vergessen, mir zu sagen, dass sie sich getrennt hat, weil das eben nicht geschehen ist. Wie kann sie nur?

Ohne ihr zu antworten, drehe ich mich auf dem Absatz um und verschwinde, so schnell mich meine Beine tragen. Alles fühlt sich plötzlich falsch an. Die Menschen, die Musik, die Lichter, meine beste Freundin. Ich fasse es nicht.

Ella und der Fremde vernaschen einander, als ich auf wackeligen Beinen an dem Tisch vorbeikomme. Für einen kleinen Augenblick lege ich verzweifelt den Kopf in den Nacken und atme tief durch. Wie soll ich jetzt nach Hause kommen?

Ganz toll. Ehrlich, ganz toll. Wäre ich bloß nie mitgegangen. Ich schließe meine Augen und ignoriere die Menschen um mich herum. Ich brauche einen Plan.

Was jetzt? Bleiben oder verschwinden?

 Erst hole ich mir etwas zu trinken, dann entscheide ich, was der nächste Schritt ist. Sobald sich diese Gedanken manifestiert haben, führen mich meine Beine fast automatisch zum leiseren Ü-30 Bereich. Die Musik in diesem Teil des Clubs ist um einige Dezibel heruntergedreht, doch von Ruhe kann keine Rede sein. Helene Fischer erklärt gerade, dass sie Atemprobleme hat, und allmählich breitet sich ein dumpfes Klopfen in meinem Schädel aus.

Welche Freude.

Ein paar Leute stehen vereinzelt um die Theke verteilt und halten ihr Bier fest. Sobald ich ein Wasser in den Händen habe, spüle ich es meine Kehle hinunter und beschließe, nicht auf die Schwestern zu warten. Ich stelle das Glas mit eisernem Griff auf den Tresen, und plötzlich überkommt mich Kälte. Ich umklammere den Becher so fest, dass sich die Fingerknöchel weiß verfärben. Mein Herz hämmert unkontrolliert von innen gegen meine Brust.

Da ist es wieder, das Gefühl, beschattet zu werden.

Schnell drehe ich mich um und beobachte meine Umgebung genauer. Alles wirkt normal. Tanzende und plaudernde Grüppchen oder Pärchen, die mir keinerlei Beachtung schenken. Zitternd stoße ich die Luft aus, als ich ihn sehe.

Da in der Ecke. Rechts neben mir.

Wow, was für ein Anblick. Ich schaue in das schönste Grau, das ich je gesehen habe. Einzig seine Augen ziehen mich in ihren Bann, alles andere um ihn herum verschwindet im Schatten. Wo kommt er plötzlich her? Erschrocken blinzle ich mehrmals und halte die Luft an. Doch sobald ich mich wieder auf die Stelle konzentriere, ist er verschwunden. Niemand ist da.

Bekomme ich Halluzinationen? Irritiert schaue ich mich um, finde aber keine grauen Augen. Verwirrt schüttele ich meinen Kopf und lasse meinen Blick ein letztes Mal durch den Raum schweifen, bevor ich mich auf den Weg nach draußen mache.

Ich dränge mich durch die Menge, und kurz bevor ich den Ausgang erreiche, schiebt sich ein Kerl der Sorte 'Never ever' vor mich und grinst schmierig.

'Na Schönheit, wo wollen wir denn hin?', lallt er. Die Fahne, die zu mir herüberschwappt, verursacht Übelkeit. Ich stoße die Luft aus, um gegen das Gefühl anzukämpfen

Meiner Erfahrung nach ignoriert man solche Männer am besten. Solange sie reden, sind sie meist harmlos. Also versuche ich mich an der Wand entlang nach vorne zu drängen. Doch der Typ lässt nicht locker. Er lehnt sich mit einem Arm gegen die Wand und versperrt mir den Weg.

„Ich hab gefragt, wo du hin willst? Was ist los mit dir? Dachte, wir könnten ein bisschen tanzen.‘

„Verschwinde!‘, zische ich und verenge die Augen. Ich ducke mich, um unter seinem ausgestreckten Arm hindurchzuschlüpfen, aber er ist schneller als erwartet. Er dreht sich geschwind um, um wieder vor mir zu stehen, und packt schmerzhaft meine Schulter, während er näher an mich heranrückt.

„Bist wohl zu gut für mich? Kannst mir nicht mal antworten, was? Aber ich mag Mädchen, die sich ein wenig wehren.‘

Warum ausgerechnet ich? Womit habe ich das verdient?

„Ich habe kein Interesse“, erkläre ich bestimmt. „Aber isch hab’s.“ Er lächelt lüstern und drückt meine Schulter zusammen. Igitt. „Sorry.“ Plötzlich schiebt sich jemand von links zwischen uns, und ich habe augenblicklich einen breiten Rücken vor der Nase, der mich vor dem Betrunkenen abschirmt. „Wer bist du denn? Verschwinde!“, schnauzt dieser sofort. „Es gibt keinen anderen Weg. Wäre nett, wenn du deinen Arm runternimmst, dann bin ich weg“, fordert der Fremde und ich starre auf den Rücken vor mir wie auf eine Schutzmauer. „Ähm...“, bringe ich heraus, doch meine Worte gehen im Geschwafel meines unerwünschten Verehrers unter. „Was ist denn los? Klar störst du, Mann. Hast gerade voll unsere Unterhaltung zerstört.“ Der Typ nimmt seine verschwitzte Hand von meiner Schulter und ballt sie zur Faust.

Das geht bestimmt gleich in eine Prügelei über.

Mein ungebetener Retter beugt sich zu dem Betrunkenen hinunter und flüstert ihm etwas ins Ohr, das ich nicht verstehe. Plötzlich dreht sich der schmierige Kerl ohne ein weiteres Wort um und wankt zurück, woher er gekommen ist. Was zur Hölle hat der Kerl zu ihm gesagt? Der Fremde neigt den Kopf leicht zur Seite und ich meine ein leises "Gerne geschehen" zu hören. Mein Kiefer fällt vor Überraschung herunter, während ich ungläubig dastehe. Spinnt der Kerl?

„Wer denkst du, wer du bist? Ich kann mich ganz alleine verteidigen. Ich bin nicht auf jemanden wie dich angewiesen“, fahre ich ihn wütend an.

Für einen Moment scheint er in seiner Bewegung zu erstarren, doch anstatt zu reagieren, verschwindet er kommentarlos, was mich noch verwirrter zurücklässt. Jetzt fühle ich mich noch elender und mache mich kämpferisch auf den Weg zum Ausgang

40ABAACF-C6C9-487B-8356-366CCDD9A82E.png

Kapitel 2

Kaum draußen vor der Tür, atme ich tief die klare, kalte Nachtluft ein. Sofort lindern die kühleren Temperaturen meine Kopfschmerzen, und ich beschließe, den Rückweg zu Fuß anzutreten. Die Strecke ist nicht gerade kurz, aber das wäre nicht das erste Mal. Zu Fuß kann ich außerdem ein paar Abkürzungen über die Felder nehmen. Ich kenne die Gegend wie meine Westentasche, und durch die sternenklare Nacht ist die Umgebung gut erkennbar.

Die Sterne strahlen wie unzählige Diamanten auf mich herab, und ich genieße die Ruhe abseits des Clubs. Ich bin bereits von der Hauptstraße abgebogen und stapfe querfeldein. Sobald ich an einem großen Acker ankomme, werfe ich einen Blick auf meine Schuhe.

Mit High Heels schaffe ich das nie.

Ungelenk ziehe ich mein rechtes Knie an, um den Reißverschluss zu erreichen. Mein Gleichgewicht war noch nie das Beste, und ich schwankte gefährlich. Bevor ich eine Bruchlandung hinlege, setze ich mich ins taufeuchte Gras und streife mir die Schuhe von den Füßen. Zum Glück haben wir Sommer.

Barfuß betrete ich die weiche Schlammpackung und verdränge jegliche Gedanken an Spinnen, Würmer oder was auch immer ich mit meiner nackten Haut berühren könnte. Besser, ich konzentriere mich auf diesen Abend und was alles geschehen ist. Vor allem Tamara. Ihr Verhalten ist mir immer noch ein Rätsel.

Es ist nicht ihre Art, mit einem fremden Kerl herumzumachen. Hatte sie vor, sich von Michael zu trennen? Ist dieser Maxwell der Grund? Vielleicht hat sie zu viel getrunken, oder er hat sie unter Drogen gesetzt? Nein, sie war völlig klar. Nur geschockt, dass ich sie erwischt habe.

Frustriert stoße ich die Luft aus und schleudere die Schuhe an ihren Riemen über die Schulter wie ein Sack Mehl. Ich spüre kaum, wie sie auf meinem Rücken aufprallen, so sehr bin ich in meine Gedanken versunken. Spekulationen bringen mich nicht weiter.

Ich muss mit ihr reden, aber vorerst werde ich sie für ihr Benehmen zappeln lassen. Sie schiebt mich zu ihrer Schwester ab, knutscht mit diesem Maxwell herum und zum Überfluss zickt sie mich auch noch an. Nein, das ist nicht akzeptabel.

Und was ist mit Ella? Für mich ist eine Trennung mit Tränen und Eiscreme verbunden, nicht mit "Ablenkung" in Form einer Affäre. Na gut, zugegeben, ich habe keinerlei Erfahrung, zumindest nicht mit einer festen Beziehung. Aber das liegt nicht nur an mir. Es gibt einfach niemanden, der mein Herz höherschlagen lässt.

Meine Gedanken sind mittlerweile total durcheinander und finden keine Ruhe. Wütend über mich selbst bleibe ich stehen und stampfe hart mit dem Fuß in den Morast. Kleine, spitze Steinchen graben sich tief in mein Fleisch, und ich schreie auf. Verdammt.

Humpelnd überwinde ich die letzten Meter der erdigen Oberfläche und wische mit der Sohle über das Gras. Sofortige Linderung lässt mich aufseufzen. Jetzt ist es nicht mehr weit, und ich eile die kurze Distanz bis nach Hause.

Endlich angekommen, stelle ich mit einem Blick aufs Handy fest, dass es kurz vor vier Uhr ist. Langsam schließe ich die Haustür auf und versuche, jegliche Geräusche zu vermeiden. Jeder Ton, der erklingt, ist so laut wie ein Kanonenschlag. Meine Eltern sind zwar nicht schnell zu wecken, aber um diese Uhrzeit ist es möglich, dass Papa im Haus unterwegs ist.

Die Schuhe nehme ich mit in mein Zimmer, damit nicht sofort auffällt, dass ich zu Hause bin. Eigentlich wollte ich bei Tamara übernachten. Langsam schleiche ich auf die Treppe zu, als im Obergeschoss überraschend eine Tür aufgeht.

In gekonnter Ninja-Manier hechte ich seitlich neben den Aufgang. Wenn ich um diese Zeit entdeckt werde, gibt es nur unnötige Fragen, die ich nicht beantworten will. Helles Licht flutet die obere Etage. Mein Herzschlag verdoppelt sich innerhalb weniger Sekunden. Mir bricht der Schweiß aus, und mein Brustkorb hebt und senkt sich hastig.

Mit ein paar schweren Tapsen über den Flur bewegt sich jemand auf die gegenüberliegende Seite auf das Badezimmer zu. Das kann nur mein Vater sein. Die Tür öffnet und schließt sich, sodass das Treppenhaus wieder in Dunkelheit und Stille liegt.

Katzengleich erklimme ich die Treppe und überwinde die paar Schritte zu meinem Zimmer. Jetzt kommt der heikelste Teil des Vorhabens, die Tür. Sie hat einen eigenen Charakter und ist mit Vorsicht zu behandeln. Die rechte Hand lege ich um die Klinke, während ich mit dem Fuß in der unteren Ecke gegen das Blatt drücke. Nun platziere ich die linke Handfläche flach auf dem Holz unterhalb des Griffs und öffne die Tür, sachte und mit vielen Stoßgebeten. Kaum ist der Spalt groß genug, schlüpfe ich hindurch und fahre schnell mit der Hand auf die gegenüberliegende Seite. Zum Schließen verfolge ich denselben Ablauf nur andersherum. Ich stoße die Luft aus, sobald ich mit den Fingern von der Klinke gleite, und lehne mich für ein paar Sekunden dagegen.

Auf Zehenspitzen bewege ich mich aufs Bett zu und springe in meinen Schlafanzug. Gerne würde ich sofort einschlafen, aber die grauen Augen, welche ich den ganzen Weg nach Hause verdrängt habe, spuken mir im Kopf herum.

Je länger ich darüber nachdenke, umso sicherer bin ich, dass ich sie mir nicht eingebildet habe. Wer bildet sich zwei Augen ein?

Mit den Gedanken an dieses intensiv leuchtende Grau falle ich in einen unruhigen Schlaf.

40ABAACF-C6C9-487B-8356-366CCDD9A82E_edited.jpg

Kapitel 3

Ich erwache mit leichten Kopfschmerzen, aber die sind nichts im Vergleich zum vergangenen Abend und mit etwas frischer Luft mühelos zu ertragen. Mit einem herzhaften Gähnen strecke ich mich aus und wippe abwechselnd mit den Füßen. Sie fühlen sich besser an, als ich es nach der Nachtwanderung erwartet habe.

Ein Blick aufs Handy verrät mir, dass die Mittagszeit gerade endet. Etliche WhatsApp-Nachrichten und ein Dutzend verpasste Anrufe von Tamara lassen das Gerät aufleuchten. Na, da hat wohl jemand ein schlechtes Gewissen. Absichtlich stelle ich auf stur und drehe das Display nach unten.

Ein paar Minuten bleibe ich noch auf meiner weichen Matratze liegen und genieße die Ruhe. Mir ist klar, dass ich irgendwann aus dem Zimmer muss und dabei meinen Eltern begegnen werde. Mühevoll schiebe ich die Decke zur Seite und hieve mich in die Höhe. Es wird Zeit, dass ich mich umziehe. Bei dem Sonnenschein, der durch mein Fenster dringt, sitzen sie bestimmt im Garten.

In einem respektablen Zustand stecke ich nur wenige Augenblicke später den Kopf durch die Terrassentür und finde sie in trauter Zweisamkeit.

„Guten Morgen“, begrüße ich die beiden und trete zu ihnen hinaus.

„Hallo Liebling. Wir haben schon überlegt, wann du wieder da bist. Und war es schön gestern? Was habt ihr unternommen?“, erkundigt sich meine Mutter, die in der Hängematte liegt und kaum zu erkennen ist.

Schön? Eher nicht.

„Ja war in Ordnung.“

Ja, ich lüge, aber ich bringe es lieber schnell hinter mich. Wenn ich Glück habe, durchläuft sie heute nicht ihr typisches mütterliches Verhör. „In Ordnung?“, wiederholt sie ungläubig, und ich beobachte, wie sich der Stoff der Matte bewegt.

Und schon legt sie los.

„Tamara hat vorhin angerufen und nach dir gefragt“, rettet mich mein Vater, bevor meine Mutter ihren Kopf über die Umrandung schiebt.

„Ach ja? Wann genau?“ Unschuldig spiele ich mit dem Bündchen meines Shirts, um seinem Blick auszuweichen.

„Vor ungefähr einer Viertelstunde. Länger ist es nicht her.“ Ich spürte seinen Blick auf mir und halte meinen Kopf gesenkt.

„Da war ich bereits auf dem Weg. Ich rufe sie nachher an“, beeile ich mich zu sagen und steuere dabei einen der freien Stühle an.

„Mach das Schätzchen“,  seuft meine Mutter. „Ich verstehe nicht, wie ihr nach dem gestrigen Tag und der Nacht immer noch Gesprächsstoff habt“, wirft meine Mutter ein und schüttelt unverständlich den Kopf. „Bringst du mir bitte ein Wasser mit, wenn du dir etwas holst? Am liebsten aus dem Kühlschrank“, flötet sie, während sie wieder in der Hängematte verschwindet.

Habe ich gesagt, dass ich in die Küche gehe?

„Natürlich“, ergebe ich mich und wende mich vom Platz ab, an dem ich mich setzen wollte. Ich gehe stattdessen ins Haus. In dem Moment, in dem ich die Schwelle übertrete, springt mein Vater auf und folgt mir in die Küche. Dort lehnt er sich an die Theke. Ich hole Gläser aus dem Schrank und schlendere zum Kühlschrank.

„Dir ist klar, dass du eine miserable Lügnerin bist, oder? Ich dachte, du bist ehrlich zu uns“, rügt er mich, und sein Blick ist durchdringend.

„Ich habe nicht gelogen“, wehre ich ab und schaue aus dem Augenwinkel zu ihm hinüber.

„Du hast aber auch nicht die Wahrheit gesagt. Was verschweigst du uns? Und es wäre höflicher, mich anzusehen.“ Seine Stimme hat an Härte zugenommen, und ich schließe die Tür des Kühlschranks und drehe mich zu ihm um. Abwartend verschränkt er seine kräftigen Arme vor der Brust, und ich atme tief durch.

Er wird nicht lockerlassen, bis ich ihm berichtet habe, was er wissen will. Mein Vater ist wie ein menschlicher Lügendetektor. Er erkennt sofort, wenn ich nicht die Wahrheit sage, und ich habe es einzig seinem Wohlwollen zu verdanken, dass er draußen nichts erwähnt hat. Gemeinsam mit meiner Mutter sind sie unschlagbar darin, Geheimnisse aufzudecken.

„Entschuldige“, murmele ich kleinlaut. „Ich habe mich mit Tami gestritten und werde sie nicht zurückrufen. Außerdem bin ich gestern Abend schon nach Hause gekommen und habe hier geschlafen.“

Seine Reaktion überrascht mich.

„Ich wusste, dass du hier warst. Schätze, du bist gegen vier Uhr hier angekommen? In die Sache mit Tamara hänge ich mich nicht rein, aber wenn ich noch einmal erfahre, dass du zu Gott-weiß-welcher Stunde allein durch die Nacht marschierst, werde ich böse“, reagiert er viel zu sanft. „Warum hast du nicht angerufen?“ Leichter Groll schwingt in seiner Stimme mit, und er fixiert mich mit seinen braunen Augen, sodass ich wie ein hypnotisiertes Schaf dastehe und nach den passenden Worten suche.

„Aber wie? Woher wusstest du das? Hat Tami ...?“, stottere ich, als mir die Bedeutung seiner Aussage bewusst wird.

„Sie hat nichts verraten, nur gefragt, ob du zu Hause bist. Man muss kein Sherlock Holmes sein, um Erdklumpen zu folgen. Wenn du dich in dein Heim schleichen willst, marschiere vorher nicht durch irgendwelche Äcker oder beseitige hinterher wenigstens die Spuren. Ich habe die Abdrücke verfolgt und bin vor deiner Zimmertür gelandet. Du hast Glück, dass deine Mutter morgens zu nichts zu gebrauchen ist und dein Mitbringsel nicht aufgefallen ist“, erklärt er, und ich spüre, wie Hitze in meine Wangen steigt.

„Und, bevor deine Gedanken rotieren, ich habe dieses Detail für mich behalten“, fügt er hinzu, und ich lächle ihm dankbar entgegen. Leicht schüttele ich den Kopf darüber, wie durchschaubar ich für meinen Vater bin.

„Danke, und wenn ich je wieder eine Mitfahrgelegenheit brauche, rufe ich an. Versprochen.“ Schwungvoll drücke ich ihn an mich, und er erwidert liebevoll die Umarmung. Er lächelt mich an, gibt mir einen Kuss auf die Stirn und kehrt in den Garten zurück.

Ich packe die Gläser, das Wasser und ein Buch auf ein Tablett und bringe alles nach draußen, wo die beiden in der Sonne sitzen.

Ohne weitere Unterbrechungen setze ich mich meinem Vater gegenüber in den Stuhl und schlage die erste Seite auf. Immer noch geistert mir der gestrige Abend im Kopf herum, und ich schaffe es nicht, mich zu konzentrieren. Ob ich Tamara besser zurückrufen sollte?

„Dingdong.“

 Mein Kopf schnellt in die Höhe, und ich fixiere die Terrassentür, als würde ich dadurch erkennen, wer vor dem Haus steht.

„Dingdong“, ertönt es ein weiteres Mal, und weder meine Mutter noch mein Vater reagieren darauf.

„Ich gehe schon. Ihr müsst nicht aufstehen“, erhebe ich mich leicht genervt und verdrehe die Augen, sobald ich ihnen den Rücken zudrehe.

„Ist eh für dich“, meint meine Mutter. Ich ahme ihre Worte nach und gehe zur Tür. Tami steht mit verheultem Gesicht davor und sieht mir mitleidig entgegen. Ihre Nasenspitze ist rot, und ihre Augen verquollen. Kann meine Mutter seit Neuestem Hellsehen oder war es offensichtlich, dass Tamara hier auftaucht?

Bei ihrem Anblick schaffe ich es nicht hart zu bleiben.

„Warte kurz“, befehle ich und informiere meine Eltern, dass ich einen Spaziergang unternehme.

Zurück bei meiner Freundin, schließe ich die Tür hinter mir und wir laufen eine Weile schweigend nebeneinanderher. Nur ein Schniefen ihrerseits unterbricht die Stille zwischen uns gelegentlich. Ich warte darauf, dass sie den ersten Schritt macht und sehe sie von der Seite an.

Ich habe ihr nicht die Tür vor der Nase zugeschlagen, das ist mehr, als sie erwarten kann. Sobald wir den Spielplatz erreichen, der seit Kindertagen von uns unsicher gemacht wurde, dreht sie sich zu mir um.

„Ich habe mich gestern miserabel verhalten. Bitte verzeih mir!“, fleht sie, und ich ziehe abwartend eine Braue in die Höhe.

„Ich habe dich überall gesucht. Nachdem Ella sagte, dass sie dich ewig nicht gesehen hat und ich nicht wusste, wo du bist, hatte ich schreckliche Angst um dich. Ich habe vorhin erst bei deinen Eltern angerufen, weil ich befürchtet habe, dass du Ärger bekommst, wenn du zu Hause bist und ich nichts davon weiß. Wo warst du?“

Ohne Punkt und Komma sprudeln die Worte aus ihr heraus, sodass mir schnell der Kopf schwirrt.

„Ich hatte keine Lust, länger auf euch zu warten, und bin nach Hause gelaufen“, erkläre ich und hebe die Schultern. „Was war das gestern Abend? Du knutschst mit irgendeinem Austauschschüler rum, hintergehst Michael, schiebst mich zu deiner Schwester ab und sagst mir nichts von der ganzen Sache? Ich dachte, wir reden über alles“, platzt es aus mir heraus, nachdem sie schweigt.

Betrübt sieht sie mich an, und weitere Tränen laufen ihre Wange hinab. Das schlechte Gewissen ist ihr buchstäblich ins Gesicht geschrieben.

„Das zwischen Max und mir lief unheimlich schnell. Die Ereignisse haben sich überschlagen, und ich wusste nicht, wo ich anfange. Außerdem dachte ich, du verachtest mich für die Sache mit Max“, jammert sie und zieht undamenhaft die Nase hoch. Weitere Tränen fließen, und sie schaut zu Boden. Sie wirkt ehrlich, verstört und reumütig, deswegen bin ich ihr nicht länger böse.

„Du erzählst mir jetzt alles, und keine Ausreden mehr“, fordere ich und ziehe sie mit mir zu den Schaukeln. Das Metall rostet hier und da, und das Gestell knarzt jämmerlich, als wir uns in die Gummischlaufen niederlassen.

„Ich habe ihn vor zwei Tagen kennengelernt“, beginnt sie zu erzählen. "Ella und ich waren einkaufen. Wir sind uns in diesem kleinen Secondhandshop in der Stadt begegnet, du weißt schon, wo es diese heißen Klamotten gibt. Ella ist in der Umkleide verschwunden, und ich bin durch die Gänge gestreift. Da stand er plötzlich vor mir. Ich habe keine Ahnung, was passiert ist. Sobald er mir in die Augen sah, wusste ich, dass er der Mann meiner Träume ist“, gesteht sie und bekommt einen verträumten Ausdruck in den Augen.

„Und was war Michael bisher?“, will ich wissen und habe prompt Mitleid mit dem Jungen, der die letzten Jahre sein Leben mit ihr geteilt hat.

„Das ist was anderes und schwer zu erklären. Sobald ich Max gesehen habe, war es magisch. Die ganze Zeit bin ich davon ausgegangen, dass Michael und ich das perfekte Paar sind und es für immer hält. Nachdem ich Max kennengelernt habe, weiß ich jedoch erst, was Liebe wirklich bedeutet.“ Ihre Worte sind fest, und sie sieht mich eindringlich an. Ich erkenne nicht den geringsten Zweifel in ihrem Gesicht.

„Versteh mich nicht falsch. Michael war schon der Richtige, irgendwie“, spricht sie weiter. „Ich bin froh, dass wir zusammen waren, aber nachdem Maxwell in mein Leben getreten ist, funktioniert das nicht mehr. Es ist wie ein Zauber zwischen uns. Wenn ich ihn sehe, habe ich den Drang, bei ihm zu sein. Ich habe fast körperliche Schmerzen, sobald wir nicht miteinander reden. Ich weiß, dass das Michael gegenüber nicht fair war, aber ich habe vorhin mit ihm gesprochen und die Beziehung beendet. Ich habe ihm nicht erzählt, dass es mit einem neuen Mann zu tun hat, um ihn nicht zu verletzen.“

Wieder treten Tränen in ihre Augen, und ich halte es nicht länger aus, tatenlos neben ihr zu sitzen. Ich nehme sie in die Arme, und jetzt heult sie richtig los.

„Ach Tami. Das war anständig. Es passt nicht zu dir, jemanden zu belügen, und wenn du sagst, dass dieser Max der Richtige ist, glaube ich dir. Ich bin mir sicher, Michael wird es verstehen.“

Sie trötet lautstark in ihr Taschentuch.

„Das tut er. Er sagte, dass er nicht sauer ist und es versteht. Ich dachte, wenn ich es ihm sage, würde er ausrasten, aber es war, als hätte er darauf gewartet“, jammert sie und wird dabei immer leiser.

„Vielleicht hat er das ja. Wahrscheinlich hat er gefühlt, dass es auf das Ende eurer Beziehung zugeht und sich nicht getraut Schluss zu machen. Es ist schön, dass ihr so erwachsen damit umgeht.“

Insgeheim bin ich ein wenig überrascht über derart vernünftiges Verhalten. Das hätte ich weder Tamara noch Michael zugetraut.

Meine Freundin schnieft laut in ihr Taschentuch und sieht mich von unten an. Dabei verzieht sie ihren Mund zu einer Schnute, bei der die Unterlippe ein wenig weiter hervorsteht.

„Verzeihst du mir? Ich weiß, das war alles andere als eine Glanzleistung. Ich hatte nicht vor, dich an Ella abzuschieben. Es war reiner Zufall, dass ich auf der Suche nach euch Max in die Arme gelaufen bin, und da war die Magie wieder. Ich habe es nicht geschafft, mich von ihm loszureißen“, erklärt sie mit zitternder Stimme, und ich streiche ihr beruhigend über den Rücken.

„Dass Ella jemanden kennenlernt, habe ich nicht erwartet. Ich bin davon ausgegangen, dass ihr zusammen Spaß habt, und ich dann später dazu stoße. Was soll ich sagen? Er küsst unverschämt gut, und irgendwie haben diese Küsse Suchtpotenzial. Ich bin nicht von ihm losgekommen“, gesteht sie.

„Kurz bevor du aufgetaucht bist, sind wir auf die Empore, um uns etwas zu trinken zu holen. Du hast mich total überrumpelt, und es war nicht ok von mir, wie ich mich verhalten habe. Als du dann gesehen hast, dass ich und Max mehr als geredet haben, bin ich durchgedreht und hab dich angefahren. Bitte verzeih mir“, fleht sie und sieht mich aus ihren rotgeränderten Augen an.

Als ob ich ihr jetzt noch böse sein könnte.

„Wir verbuchen das am besten unter hormongesteuerte Verliebtheit“, gebe ich nach und lächle sie an.

Anschließend berichtet sie mir, was ihr neuer Schwarm ihr bisher über seinen Auslandsaufenthalt erzählt hat. So erfahre ich, dass die beiden zwischen Wolke sieben und Zungenakrobatik recht viel miteinander gesprochen haben.

Ab morgen besucht er und seine Mitschüler unsere Schule. Sein Jahrgang wird auf unseren aufgeteilt, sodass wir mit einer bisher eher kleinen Klasse, auf eine übliche Größe anwachsen.

Mich würde interessieren, wer auf die Idee gekommen ist und die Jungs in die größte Provinz Deutschlands verschleppt hat.

„Sag mal der Typ, der sich gestern in der Warteschlange so rüde vor uns gedrängelt hat, ist nicht zufällig in der Klasse, oder?“, unterbreche ich sie in ihrem Redefluss. Mir ist soeben eine Eingebung gekommen, und ich sehe, wie es in ihrem Kopf anfängt zu rattern. Sie legt die Stirn in Falten.

„Keine Ahnung, ich habe den Kerl kaum gesehen“, erklärt sie, und ich nicke gedankenverloren.

Irgendwie lässt mich der Gedanke nicht los, dass die grauen Augen, der breite Rücken meines ungewollten Retters und der Typ vom Eingang ein und dieselbe Person sind.

„Hast du gestern zufällig jemanden mit grauen Augen gesehen? Einen der in Max Klasse ist?“, will ich nun wissen und schaue sie abwartend an. Sie reißt die Augen auf, und ein süffisantes Grinsen legt sich auf ihr Gesicht.

„Gibt es etwa einen, der dir gefällt?“

Sofort verdrehe ich die Augen. So war das nun wirklich nicht gemeint.

„Nein. Es ist nur eine Frage. Also hast du?“

Konzentriert ruft sie in Gedanken die Gesichter des vergangenen Abends ab und schüttelt nach einigen Augenblicken den Kopf.

„Nein, ich glaube nicht, dass ich jemanden gesehen oder kennengelernt habe. Daran könnte ich mich garantiert erinnern“, macht sie meine Hoffnung zunichte, und ich zucke mit den Schultern.

Auf dem Rückweg läuft sie neben mir her und fragt spezifischer, was gestern passiert ist. Ich berichte ihr von den grauen Augen, dem Gefühl, beobachtet zu werden und dem angetrunkenen Jungen.

Sie ist einen Moment bestürzt, und wieder wird ihr Blick glasig. Eilig versichere ich ihr, dass es halb so schlimm war und der Unbekannte mich gerettet hat.

Nachdem wir vor meiner Haustür ankommen, überlegt sie, ob der Alkohol daran schuld sei, dass ich mich nicht an ein genaues Gesicht zu den Augen erinnere.

Hätte ich sie nur nicht gefragt.

„Möglich, schließlich vertrage ich nichts“, gebe ich schnell zu und hoffe, dass sich das Thema damit erledigt. Sie nickt vage, sieht allerdings nicht so aus, als wäre die Sache vom Tisch.

Eilig verabschiede ich mich von ihr, bevor sie mich mit weiteren Vermutungen bombardiert. Nachdem ich die Tür hinter mir zugeschlagen habe, atme ich tief durch und schließe einen Moment die Augen.

Der Abend mit meinen Eltern verläuft unspektakulär, und ich fühle mich wie erschlagen, als ich müde auf mein Bett herabsinke. Trotz allem, was heute geschehen ist, lassen mich meine karussellfahrenden Gedanken nicht in Ruhe.

Insgesamt habe ich das Gefühl, dass die Geschichte mit Tamara, Maxwell und Michael zu glatt abgelaufen ist. Das mit Max verstehe ich auch nicht. Klar, Liebe auf den ersten Blick, meinetwegen, aber ist das in diesem Ausmaß überhaupt möglich? Und dann ist da immer noch dieser Fremde mit den grauen Augen.

Nach wie vor bin ich davon überzeugt, dass ich sie mir nicht eingebildet habe und alle drei Personen von gestern einen Zusammenhang haben. Doch wie sieht er aus? Und warum beobachtet er mich?

Was stimmt nicht an dieser Geschichte?

Sobald ich die Lider schließe, schlafe ich unvermittelt ein. Die fremden Augen verfolgen mich bis in meine Träume, und ich verliere mich in ihnen.

40ABAACF-C6C9-487B-8356-366CCDD9A82E.png

Kapitel 4

Der Tag ist noch nicht angebrochen, als ich die Augen aufschlage. Verdammt, bin ich müde. Ein Blick aufs Handy lässt meine Laune nicht steigen. Die Anzeige zeigt mir, dass ich über eine Stunde zu früh erwacht bin. Jeder Versuch, noch einmal einzuschlafen, schlägt fehl. Also stehe ich frustriert auf und ziehe mich an. Das einzig Positive an der Sache ist, dass ich genug Zeit habe, um alles für den ersten Schultag der neuen Woche vorzubereiten.

Ich setze mich an den Schminktisch und schaue dem Grauen ins Gesicht – und oje, ich sehe schrecklich aus. Tiefe Schatten liegen unter meinen blauen Augen, und die sonst glänzenden, glatten Haare stehen wild in alle Richtungen ab. Was habe ich in der Nacht getrieben, dass ich so aussehe? Ich werde viel Concealer und Kaffee brauchen, um wacher zu wirken, als ich mich im Moment fühle.

Bei jedem Schritt überrede ich meine Finger und Arme, ihre Arbeit aufzunehmen. So vergeht eine gefühlte Ewigkeit, bis ich das Spiegelbild akzeptabel finde. Fertig gestylt und angezogen, schnappe ich mir meine Tasche und begebe mich in die Küche. Meine Eltern schlafen noch. Verständlich um fünf Uhr morgens, und ich bin ziemlich neidisch auf sie. Sie liegen in ihrem warmen, kuscheligen Bett, während ich die Kaffeemaschine anstarre. Das doofe Ding ist zu langsam für meinen benötigten Konsum.

„Komm schon“, fordere ich sie auf und erhalte ein Gurgeln zur Antwort. Ich verdrehe die Augen und schaue ermüdet dabei zu, wie sich die Tropfen meines heutigen Überlebenselixiers in der Kanne sammeln. Genervt wende ich mich von der Maschine ab und schlürfe zum Kühlschrank, um mir alles für ein karges Frühstück zu holen. Ermattet setze ich mich an die Theke und starre wieder gereizt auf die Kaffeekanne, während ich mir wie ferngesteuert ein Brot mit Marmelade beschmiere.

Um mich auf andere Gedanken zu bringen, öffne ich die Instagram-App auf meinem Handy. In die Beiträge vertieft, verschlinge ich drei ganze Scheiben. Wenn ich nicht aufpasse, rolle ich zur Schule.

Endlich macht die Kaffeemaschine die letzten glucksenden Geräusche, und ich frage mich nicht zum ersten Mal, wieso wir so ein altersschwaches Gerät besitzen. Aggressiv fülle ich meine Tasse randvoll mit diesem schwarzen Gold und verbrenne mir vor lauter Gier die Zunge. Was für ein Scheißtag.

Mit mehr Schwung, als ich mir zugetraut hätte, stelle ich die Tasse zur Seite und prompt treffen ein paar dunkle Tropfen mein Oberteil. Na toll. Das war mein Lieblingsshirt, verdammt. Das kommt davon, wenn man seinem Arm keine genauen Anweisungen gibt.

Möglichst leise stapfe ich wieder nach oben in mein Zimmer und wühle mich durch den Kleiderschrank. Bis ich etwas gefunden habe, das zum Make-up, den Schuhen und der Tasche passt, vergehen etliche Minuten, und ich kehre gehetzt zurück in die Küche. Unsicher, ob ich es noch einmal wagen soll, beäuge ich die Tasse, befehle ihr artig zu sein und keine Sauerei mehr zu veranstalten. So weit ist es gekommen, ich rede mit der Kaffeetasse.

Mein Blick fällt auf die Zeitanzeige des Handys, das ich auf der Theke habe liegen lassen, und vor Schreck hätte ich beinahe das nächste Missgeschick verursacht.

Verflixt, wo ist die Zeit geblieben? Wie ferngesteuert schnappe ich mir Handy und Tasche, bevor ich aus dem Haus stürme. Im Laufschritt überwinde ich die Distanz zur alten Linde, an der meine Freundin nervös hin und her wippend nach mir Ausschau hält.

„Was ist denn mit dir passiert? Hast du verschlafen?“, erkundigt sie sich, während ihr prüfender Blick von meinem Scheitel bis zu den Füßen wandert.

So viel dazu, kein Sport. Es ist sieben Uhr, und wir haben knappe zwanzig Grad. Das zusammengerechnet mit dem Tempo, welches ich hingelegt habe, lassen direkt den Wunsch nach einer Dusche entstehen. Wahrscheinlich ist mein ganzes Make-up verlaufen, und die Mühe war vergebens.

„Ja, schön wär's. Wie sehe ich aus?“ Mein Atem kommt stoßweise, und ich halte mir die schmerzende Seite, in der sich das Seitenstechen unangenehm bemerkbar macht.

Sie schüttelt stumm ihren Kopf und sagt mir ohne Worte, dass alles umsonst war.

„Komm, ich mach das schnell. Die zwei Minuten haben wir noch“, fordert sie mich auf und zieht mich zu der kleinen, windschiefen Bank, die vor dem dicken Stamm steht.

Konzentriert wandert ihre rechte Augenbraue in die Höhe, während sie ihr Notfall-Make-up aus der Tasche zaubert. Ich bin nicht eitel, aber selbst ich habe so viel Stolz, dass ich nicht am ersten Tag einer neuen Woche als Vogelscheuche in der Schule auftauche. Mit stolzgeschwellter Brust hält sie mir einen kleinen Spiegel vor die Nase, und ich bin fasziniert, wie frisch ich wirke. Eilig gebe ich ihr einen Kuss auf die Wange, und sie packt ihre Utensilien zusammen. Gemeinsam legen wir die letzten Meter zur Schule zurück, während ich ihr von meinem Morgen berichte.

„Das heißt lediglich, dass es ab jetzt besser wird. Du wirst sehen“, erklärt sie und lächelt mich dabei aufmunternd an.

Ahh, Motivations-Tami ist am Start.

Pünktlich zum Gong betreten wir das Klassenzimmer und eilen auf unsere Plätze. Die freien Stühle finden sich ausschließlich im vorderen Bereich. Beim Gedanken, warum das so ist, überkommt mich sofort Mitleid mit denen, die das Los treffen wird. Die Gründe, weshalb es ratsam ist, nicht in der ersten Reihe zu sitzen und nahe der Frischluftzufuhr heißen Herr Ostenwald und Frau Fischer-Brühl.

Herr Ostenwald, unser Lehrer in Sport und Geografie, ist etwas in die Jahre gekommen und ein freundlicher Geselle. Weniger hervorzuhebende Attribute von ihm sind seine ausgeprägte Schweißbildung und der damit einhergehende Geruch. Es ist nicht übertrieben, wenn jemand meint, dass seine körperlichen Ausdünstungen vom letzten Knobi-Zwiebeldöner Übelkeit verursacht. Je wärmer und intensiver der Sportunterricht war, umso unangenehmer ist das Aroma. Vor zwei Jahren hat er behauptet, er verspeise jeden Morgen eine rohe Zwiebel. Die würde ihm Kraft bringen und ein langes Leben.

Bei Frau Fischer-Brühl, Lehrerin für Musik und Physik, hat man das Gefühl, in einem fortwährenden leichten Sprühregen zu sitzen. Selbst in der zweiten Reihe ist man vor der lispelnden Ausdrucksweise, welche sie an den Tag legt, nicht gefeit.

Ich ziehe meinen Block aus der Tasche, als sich die Tür öffnet und Frau Doktor Specht, unsere Klassenlehrerin, gefolgt von zehn Jungen, den Raum betritt. Allesamt sehen aus wie Mitte zwanzigjährige Footballspieler, und meine Augenbrauen wandern in die Höhe.

An sechster Stelle steht Max, der mir kurz zuzwinkert und dann bei Tamara hängen bleibt. Ich staune schon gar nicht mehr, als ich neben ihm die Jungs von Samstagnacht aus dem Club wiedererkenne. Sobald mein Blick bei Nummer 9 innehält, der mir geradewegs entgegensieht, schnappe ich nach Luft. Mein Puls beschleunigt sich rasant, und ich umklammere das Papier in meinen Händen so kräftig, dass meine Fingerknöchel weiß hervorstechen.

Unsere Blicke verhaken sich miteinander, und ich bin nicht in der Lage wegzusehen. Nummer neun ist der Unbekannte. Er hat die grauen Augen, die mich die letzten Tage und Nächte verfolgt haben. Er ist Mister X. Es ist, als würde ich mit ihm in einem Tunnel stehen und um uns herum existiert nichts. Ich blende alles aus.

Auf einmal setzen sich die Jungs in Bewegung, und der Blickkontakt bricht ab. Ich werde mir bewusst, dass ich die Luft angehalten und nicht ein Wort von dem verstanden habe, was Frau Doktor Specht erzählt hat. Keuchend stoße ich den Atem aus und verfolge ihn bis zu seinem Platz.

Er setzt sich von einem Mitschüler verdeckt seitlich in die Reihe, während ein anderer lächelnd auf mich zukommt und sich auf den freien Stuhl neben mir fallen lässt.

„Hallo, wie geht’s? Ich bin Lennox“, stellt er sich im besten Englisch vor. Mit erhobenen Augenbrauen sehe ich ihn an und bin einen Moment sprachlos. Mein Mund steht ein wenig offen, nicht wegen seines guten Aussehens, sondern eher, weil mein Hirn einen Augenblick benötigt, um zu registrieren, dass es nötig ist, zu übersetzen.

Normalerweise ist das kein Problem. Meine Eltern waren zweimal mit mir in London, und jedes Mal haben sie mich gezwungen, die Landessprache zu sprechen. Ehrlich und widerstrebend gebe ich zu, dass ich dadurch eine der Besten in diesem Fach bin. Sobald mein Hirn seine Arbeit verrichtet und seine Worte einen Sinn ergeben, stelle ich mich vor.

Kaum habe ich meinen Namen ausgesprochen, fährt Frau Doktor Specht mich an. "Fräulein Summert, ich habe Ihnen soeben erklärt, dass Sie mit unseren neuen Mitschülern außerhalb des Englischunterrichts Deutsch zu sprechen haben. Was haben Sie daran nicht verstanden?“

Peinlich berührt senke ich meinen Kopf. Ich spüre, wie mir die Hitze in die Wangen steigt und wünschte, ich könnte mich unsichtbar machen.

„Entschuldigung. Es war ein Reflex“, beeile ich mich zu sagen. Ich schiele zu Lennox, der grinst, als hätte er nichts mitbekommen. Er hat ein sympathisches Lächeln mit Grübchen in den Wangen und mit seinen blauen Augen und dem blonden Haaren hat er etwas Spitzbübisches an sich.

Meine Lehrerin wendet sich mit einem Nicken von mir ab, als ich mich traue, den Kopf zu heben, und die restliche Stunde wird französisch gesprochen. Auch diese Sprache ist mir durch diverse Urlaube in Paris nicht fremd, liegt mir allerdings nicht so gut. Meine Eltern sind der Meinung, dass Englisch als Weltsprache ausreichend ist, vor allem, weil unsere Urahnen Engländer waren.

Daher auch der Nachname, Summert. Mit vollen Namen heiße ich Sophie Leonore Summert. Was für ein Name. Ich danke meinem Vater immer wieder dafür, dass der Zweitname stumm geblieben ist. Meine Mutter hatte bei der Namensgebung darauf bestanden, dass er auf unsere Vorfahren zurückgeht. Leonore war angeblich eine der ersten Summert. Wer auch immer das ist.

Tami ist der Meinung, mein Name hätte Star-Potenzial, Sophie Summert à la Kim Kardashian oder Tina Turner. Ich schüttle stumm den Kopf, als ich mich an das Gespräch erinnere und grinse. Ihre Familie entspringt demselben Inselstaat, was uns seit Kindergartentagen zu besten Freundinnen zusammengeschweißt hat.

Ich sitze auf meinem Platz und sinniere über den Namen nach, während die Ersten aufstehen und die Klasse verlassen. Anscheinend hat es zur Pause geläutet, und ich habe nichts davon gemerkt. Lennox ist ebenfalls aus dem Raum verschwunden, aber der Junge mit den grauen Augen sitzt nach wie vor auf seinem Platz und fixiert mich. Sein Blick macht mich nervös. Ich bin mir nicht sicher, wie ich ohne mich zum Deppen zu machen, aufstehen und den Klassenraum verlassen soll.

Just in diesem Moment kommt der Kerl, der mit Ella geflirtet hat, von der Seite an ihn herangetreten und flüstert ihm etwas ins Ohr. Beide sehen mich dabei an, als wäre ich ein Alien. Was ist denn jetzt los?

Gerade öffne ich den Mund, um etwas zu sagen, da steht Grauauge auf, und die beiden verschwinden gemeinsam aus dem Zimmer.

Ich starre ihnen einen Augenblick hinterher und brauche einen Moment, bis ich mich gefangen habe. Kopfschüttelnd folge ich meinen Klassenkameraden in den Flur. Wir haben Blockunterricht und nur eine kurze Pause für den Raumwechsel.

Der Gurt meiner Tasche gibt ein Knarzen von sich und ich begutachte den Riemen, während ich um die letzte Ecke biege und gegen etwas Hartes stoße. Der Aufprall kommt unerwartet, sodass ich überrascht zurückweiche und mir die schmerzende Brust reibe. Ich stolpere über meine Füße und verliere das Gleichgewicht, wobei ich wild mit den Armen rudere. Der Moment dehnt sich in Zeitlupentempo aus, und während ich noch zu begreifen versuche, gegen was ich gelaufen bin, löst sich der Gurt vollständig vom Rest der Tasche. Der Inhalt verteilt sich mit einem lauten Klatschen auf dem Boden.

Mit weit aufgerissenen Augen sehe ich zu, wie sich die Mauer vor mir umdreht und geschwind kräftige Arme um meinen Körper legt. Der Fall stoppt in dieser Sekunde genauso wie mein Herzschlag. Ich blicke in ein stahlgraues Augenpaar, und alles um uns herum verschwindet. Mein Mund ist staubtrocken, die Zunge starr wie Zement. Offenbar bin ich nicht mehr fähig, mich zu artikulieren.

Er stellt mich vorsichtig auf die Beine, lässt mich jedoch nicht los. Seine Hände sind warm, und die Berührung verursacht ein Prickeln, das tief in mir nachklingt. Ich stehe so dicht vor ihm, dass ich seinen Atem auf meiner Haut spüre. Dieser Moment fühlt sich perfekt an.

Tamara, die alles mitangesehen hat, kommt zu uns gerannt und dreht mich rabiat zu sich. Ihre Augen sind vor Schreck geweitet, und ihre Stirn liegt in tiefen Falten.

„Oh Gott, Sophie, alles klar? Hast du dich verletzt?“, will sie wissen. Statt zu antworten, drehe ich meinen Kopf wieder zu dem Jungen, der mich mittlerweile losgelassen und sich etwas von mir entfernt hat. Ich sehne mich augenblicklich nach seiner Nähe, obwohl er weiterhin direkt vor mir steht und mich ansieht.

Tamara zwingt meinen Kopf zur Seite, und ich unterbreche den Blickkontakt. Mit beiden Händen hält sie mein Gesicht umklammert und nimmt mir damit die Möglichkeit, mich wieder zu ihm zu drehen.

„Sophie, hörst du? Ich habe gefragt, ob du Schmerzen hast. Das sah echt übel aus.“

„Was? Nein. Es ist alles in Ordnung. Habe mich nur erschrocken“, beruhige ich sie, und sobald sie meinen Kopf frei gibt, drehe ich mich um. Er ist verschwunden. Einfach weg.

Mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen, und unerwartet schießen mir Tränen in die Augen. Ich schaue mich suchend nach ihm um, doch er bleibt wie vom Erdboden verschluckt.

Wieso bringt er mich so um den Verstand? Obwohl ich direkt neben meiner Freundin stehe, die dabei ist, meine Sachen zusammenzulesen, komme ich mir unendlich allein vor. Um nicht loszuheulen, gehe ich in die Knie und helfe ihr. Sobald wir alles eingesammelt haben, hebe ich die Tasche mit beiden Händen in die Höhe und presse sie wie einen Schutzschild an meine Brust.

40ABAACF-C6C9-487B-8356-366CCDD9A82E_edited.jpg

Kapitel 5

Herr Ostenwald steht vor der Tafel, als wir den Raum betreten, und sieht uns mit hochgezogenen Augenbrauen an. Wahrscheinlich hat er die Misere im Flur mitbekommen, weswegen er unser Zuspätkommen nicht kommentiert.

Mit gesenktem Kopf eile ich auf meinen Platz in der letzten Reihe, um niemanden anzusehen. Herr Ostenwald quält die Klasse mit den Ausbreitungen des Ganges Deltas, als Lennox sich leise flüsternd an mich wendet.

„Bist du okay?“

Mit glühenden Wangen sehe ich ihn an und nicke stumm. Gott, ist das peinlich. Er schielt neugierig zu meiner Tasche, wodurch auch mein Kopf in die Tiefe wandert. Mit gerunzelter Stirn inspiziere ich die Naht. Wieso reißt dieser verdammte Riemen? Ich habe sie im letzten Urlaub gekauft, und das Teil war kein Schnäppchen. Mit den Fingerspitzen gleite ich über die Abrissstelle und klemme die Unterlippe zwischen die Zähne. Lennox beobachtet mich bei meiner Untersuchung und hebt amüsiert die Augenbrauen.

„Was? Das ist nicht normal, oder? Die war fast neu“, flüstere ich und hebe beide Brauen.

„Die war schlecht verarbeitet. Du hattest Pech“, reagiert er postwendend und unterdrückt ein Grinsen. Er rutscht ein wenig näher und betrachtet die Stelle.

„Die war voll teuer", gebe ich wispernd zurück und betrachte sein Profil. Kantiges Gesicht, gerade Nase und ein unverschämtes Lächeln, das er mir schenkt.

Nach kurzer Analyse meines Riemens hebt er den Blick und wirkt verunsichert. Sein rechter Mundwinkel wandert in die Höhe, während er die Tasche dreht, sodass ich den Stoff genauer betrachten kann.

„Sei bitte nicht sauer, aber das ist wirklich schlecht verarbeitet. Der Gurt wurde angeklebt und nicht vernäht. Dazu ist das Material minderwertig. Ich hoffe, du hast nicht zu viel dafür bezahlt, Prinzessin.“

Prinzessin? Spinnt der?

„Und wie kommst du überhaupt zu dieser Information?“

„Meine Eltern haben eine Textilfirma. Es ist wichtig, auf die Verarbeitung zu achten. Viele versuchen zu täuschen, wo sie nur können. Ich erkenne 90 % aller Imitate, und das hier ist kein Original“, erklärt er und deutet auf das Stück in meinen Händen. Meine Kinnlade klappt nach unten, und für einige Sekunden bin ich sprachlos.

Seine Wangen nehmen einen leichten Rosa-Ton an, und ich habe das Gefühl, dass ihm sein Fachwissen unangenehm ist.

„Wenn ich das Tami erzähle, wirst du von jetzt an zu unserer Shoppingbegleitung gezwungen sein“, raune ich, und Lennox sieht mich fragend an. Ich deute mit dem Kinn auf meine Freundin, und seine Mundwinkel verziehen sich zu einem erfreuten Schmunzeln.

„Habe ich erwähnt, dass meine Eltern Unterwäsche produzieren? Ich berate euch gerne“, reagiert er frech und mustert Tamara von Kopf bis Fuß. Ich lache.

„Vergiss es. Du kommst nur zu normalen Shoppingausflügen mit. Wenn wir großzügig sind, erlauben wir dir, unsere Taschen zu tragen“, gebe ich zurück und verenge die Augen.

„Vielleicht möchten sie der Klasse mitteilen, worüber sie sich amüsieren“, fordert Herr Ostenwald, der unbemerkt vor den Tisch getreten ist und uns erbost ansieht. Ich bin schon dabei, mich zu entschuldigen, als Lennox aufspringt und klar und deutlich zur Klasse spricht.

„Wir haben über Seide und Spitze gesprochen, besser gesagt über Dessous. Brauchen Sie auch etwas? Ich hätte nicht erwartet, dass Sie an solcher Art Kleidung interessiert sind, aber man sollte den Menschen eben nie nach dem Einband beurteilen, richtig?“

Lennox lächelt Herrn Ostenwald herzlich an und setzt sich wieder, als dieser nicht antwortet und ihn ebenso perplex ansieht wie jeder andere in der Klasse.

Zum wiederholten Male an diesem Tag steigt mir die Hitze in die Wangen, und ich schaue mit aufgerissenen Augen zu meinem Lehrer auf. Augenblicklich erklingt ein unterdrücktes Kichern. Ostenwald, der das Lachen auf sich bezieht, weil er nichts verstanden hat, nickt uns zu und verschwindet mit den Worten, „Schön schön, na von mir aus“, wieder nach vorn. Nun ist es kein gepresstes Gelächter mehr, sondern schallendes Gelächter.

Mein Blick fliegt zu Tamara, die erst mich und dann Lennox ansieht, mir frech zuzwinkert und die Daumen hebt.

Übelkeit breitet sich in meinem Magen aus, und sobald ich den Kopf zur rechten Seite wende, wandelt sich diese augenblicklich in Angst um. Grauauge sitzt stocksteif und mit zu Fäusten geballten Händen auf seinem Platz. Sein Gesicht ist eine reglose Maske, nur seine Augen werfen Blitze auf meinen Sitznachbarn.

Sobald Lennox diese Reaktion sieht, verblasst sein Lächeln, und er senkt den Kopf.

Die restliche Stunde wechseln wir kein Wort mehr miteinander, und ich versuche, mich unsichtbar zu machen. Sobald es zur Pause läutet, verlässt Herr Ostenwald mit eiligen Schritten den Klassenraum. Wahrscheinlich will er übersetzen, was Lennox von sich gegeben hat.

In Windeseile packe ich meine Sachen zusammen, klemme mir die Tasche unter den Arm und eile zum Ausgang.

„Du gehst ja ran“, bestürmt mich Tamara lachend und hält mich am Arm zurück, als ich an ihr vorbeieile. Plötzlich wird es hinter uns laut. Grauauge steht so hastig auf, dass er seinen Stuhl umwirft und in einem Hechtsprung über den Tisch fliegt. Er stürzt sich auf Lennox und trifft sein Auge mit gezielter Wucht. Alles passiert so schnell, dass ich zunächst nicht begreife, was vor sich geht.

„Oh nein“, entfährt es meiner Freundin. Alle verfolgen gebannt die Szene. Stumm starren wir die beiden an, unfähig, uns zu rühren. Lennox taumelt mit weit aufgerissenen Augen zurück, wird aber sofort zu Boden gebracht, als sein Angreifer sich rittlings auf ihn kniet. Das reicht.

„Stopp!“, brülle ich verzweifelt, aber meine Worte gehen im Lärm des Gemetzels unter. Ich kann nur zusehen, wie er wütend auf ihn einschlägt. Jeder Schlag hallt wie ein Trommelschlag in meinen Ohren wider, und ich zittere am ganzen Körper.

Endlich in der Lage zu reagieren, stürze ich zu ihnen, um Grauauge davon abzuhalten, weiteren Schaden anzurichten. Tamara stellt sich sofort schützend zwischen uns und zieht mich aus der Gefahrenzone.

„Lass das!“, fordere ich sie auf, aber sie weicht nicht zurück. Schutzsuchend hebt Lennox die Arme vors Gesicht, ohne Gegenwehr zu leisten.

Warum wehrt er sich nicht?

„Das war nur ein Spaß. Bleib cool“, ruft er dem Angreifer zu.

„Bleib cool?“, erwidert Lennox, während er weiterhin Prügel einsteckt.

Endlich lösen sich seine Kameraden aus ihrer Erstarrung. Maxwell und ein mir unbekannter Junge greifen ein und halten Grauauge fest. Sie ziehen ihn von seinem Opfer weg, während Max beruhigend auf ihn einredet. Leider ist er dabei so leise, dass ich kein Wort verstehe. Doch seine Beschwichtigung scheint zu wirken.

Grauauge unterdrückt seine Angriffsversuche gegen Lennox und starrt ihn stattdessen voller Wut an. Ich stoße Tamaras Hand beiseite und stelle mich vor den Jungen, dessen Blick jetzt zornig über mein Gesicht wandert.

Wieso benimmt der sich so?

„Spinnst du? Er hat überhaupt nichts getan“, fahre ich ihn an und hebe mein Kinn. Wenn er denkt, dass ich ängstlich zurückweiche, hat er sich getäuscht.

Ohne eine Antwort zu geben, dreht er sich um und stürmt aus dem Raum. Perplex schaue ich ihm hinterher, schüttele den Kopf und schnaube.

„Idiot“, entfährt es mir.

Zurück bei Lennox gehe ich in die Knie, um mir sein Auge anzusehen.

„Alles in Ordnung? “, erkundige ich mich und betrachte sein Gesicht. Seine Deckung war gut. Abgesehen vom Veilchen ist kaum etwas zu erkennen.

„Ja“, knurrt er, steht auf und sieht mich mit erhobener Braue abschätzig an.

„Misch dich nicht mehr ein“, verlangt er und verschwindet genauso schnell wie sein Angreifer aus dem Klassenzimmer.

Warum ist er auf mich wütend?

„Was habe ich denn getan? “, frage ich und sehe zu meiner Freundin, die die ganze Zeit über geschwiegen hat.

Sie zuckt mit den Schultern, hakt sich bei mir ein und zieht mich mit den Worten „Jungs“ nach draußen.

Dir gefällt was du liest?

Hole dir das Buch, egal ob, ebook, Taschenbuch oder Hardcover.

Klicke  einfach hier.

bottom of page