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Kapitel 1

Bitte nicht.

Bitte, bitte nicht.

Ein eisiger Schauer durchfährt mich und ich schwanke auf der Stelle. Mein Herz fühlt sich an, als würde es in tausend Splitter zerspringen, während ich hastig Luft einziehe. Jemand beugt sich über eine am Boden liegende Person und mein Brustkorb zieht sich schmerzhaft zusammen. Bitte lass es nicht Akira sein, der da am Boden liegt.

Zitternd zwinge ich mich weiterzugehen und unterdrücke die Übelkeit, die mir die Magensäure die Speiseröhre hinauf treibt. Meine Augen lösen sich nicht von dem Körper am Boden. Ich stolpere über einen Stein. Nur mit Mühe fange ich mich ab, während ich das klebrige Blut an meinen Fingern spüre. Oh Gott, bitte nicht.

Mit mühsamen Schritten rappel ich mich auf und zwinge meine Beine, mich Meter um Meter voran zu tragen. Die Umrisse vor mir werden schärfer. Es ist Tamara, die dort kniet. Sie drückt ihre Hände auf die Brust der Person und wimmert erbärmlich. Sie stößt ein gequältes Schluchzen aus, woraufhin sich mein Herz schmerzhaft zusammen zieht. Ich schnappe nach Luft. Fahrig schiebe ich mich an den Umstehenden vorbei. Bitte nicht.

Tränen schießen mir in die Augen und ich falle neben ihr zu Boden. Tamaras Hände sind blutgetränkt und ihre Wangen feucht vom salzigen Nass. Das Gesicht des Mannes ist aschfahl. Seine Lider sind geschlossen, und sein Brustkorb hebt und senkt sich langsam. Ich stoße erleichtert den Atem aus. Er lebt.

„Was ist passiert?“, krächze ich mit rauer Stimme. Zittrig strecke ich meine Hand aus, um sie auf ihre Schulter zu legen.

Tamara sieht mich mit geröteten Augen an, als hätte sie mich soeben erst bemerkt.

„Sophie?!“ Ihre Stimme ist brüchig und klingt, als würde sie jede verbliebene Kraft darauf verwenden, meinen Namen auszusprechen. Die Häarchen an meinen Armen richten sich auf. Ich schaue sie nicht an.

Schwer schlucke ich als mein Blick über das rot gefärbte Shirt unter ihren Händen, hinauf zu seinem Gesicht gleitet. Eine große Platzwunde ziert seine Stirn und ein paar Schrammen sind zu erkennen. Es muss einen Kampf gegeben haben.

„Was ist passiert?“, wispere ich stockend und zwinge mich, meine Augen auf Tami zu richten. Die Überraschung meines Auftauchens hat ihre Tränen versiegen lassen.

Sie sieht mich mit starrem Gesichtsausdruck an, als wäre ich ein Geist. Ich bemerke, dass ein paar dunkle Abdrücke, die freien Stellen an ihrem Körper zieren. Irritiert ziehe ich die Stirn kraus. Ihr Oberteil ist zerrissen und der Arm darunter gut sichtbar. Schrammen und blauen Flecken zeichnen sich deutlich von ihrer hellen Haut ab.

„Wo warst du?“, fragt sie tonlos.

Wo ich war? Ist das denn jetzt wichtig? Was zur Hölle ist hier passiert und wo zum Teufel ist Akira? Ich runzle die Stirn und schaue zu den anderen auf.

„Er braucht einen Krankenwagen. Habt ihr den Notruf verständigt?“, will ich wissen und suche in den Gesichtern nach mehr als dem starren Schrecken, der in ihnen zu lesen ist.

Lennox tritt aus der Reihe und hockt sich vor mich auf die gegenüberliegende Seite. Seine Augen wandern von mir zu dem liegenden Jungen, zu Tamara und wieder zu mir zurück. Er holt tief Luft und räuspert sich, ehe er ein Wort herausbringt.

„Der Krankenwagen müsste gleich da sein. Wir haben einen Druckverband angelegt. Mehr können wir im Moment nicht tun. Maxwell scheint stabil zu sein.“ Er gibt sich Mühe, seine Stimme gefestigt klingen zu lassen, doch mir entgeht die Sorge in seinen Worten nicht.

Eine steile Falte bildet sich auf meiner Stirn. Fragend fixiere ich ihn. „Lennox, was ist passiert?“, fordere ich, abermals zu wissen. Ich mustere ihn. Er sieht nicht viel besser aus als Tamara.

Verdammt, wo ist Akira?

„Wo warst du?“, höre ich meine Freundin ihre Frage wiederholen und wende mich ihr zu. Ihr Körper bebt und sie zieht mit zusammengebissenen Zähnen die Luft ein.

„Was auch immer geschehen ist, es tut mir leid ...“, setze ich an.

Mit voller Wucht landet ihre blutige Hand in meinem Gesicht und ich werde nach hinten geschleudert. Der Schlag kam so schnell, dass ich keine Chance habe, mich abzufangen. Ich lande hart auf dem Rücken und stöhne auf. Mein Handy rutscht aus meiner Hosentasche und schlittert über den Boden. Für einige Sekunden wird mir schwarz vor Augen. Mein Kopf nimmt denselben Weg wie das Telefon, jedoch bleibt er an Ort und Stelle liegen.

Jetzt kommt Bewegung in die Gruppe. Sie eilen auf Tamara zu, die sich wie von der Tarantel gestochen auf mich stürzt. In Windeseile sitzt sie auf mir und drischt auf mich ein.

„Wo warst du?“, schreit sie immerfort. Ich bin so perplex, dass ich gar nicht auf den Gedanken komme, mich zu wehren.

Die immer näherkommenden Sirenen lassen sie lauter schreien, während sie tränenblind über mich herfällt.

„Wo warst du?“, keift sie, und ihre Faust trifft mich an der Schläfe. Schmerz explodiert hinter meinen Augen, und ich bekomme kaum noch Luft.

„Hör auf. Bitte“, flehe ich sie an. Es scheint sie nur zusätzlich zu befeuern. Sie befindet sich in einem Rausch der Wut und landet einen Treffer nach dem anderen.

Die Jungs ziehen sie von mir runter. Ich bleibe einen Moment liegen und sauge rasselnd den Sauerstoff in meine Lunge. Die Heilung, die mein Körper in den vergangenen Tagen erleben durfte, hat sich soeben in Luft aufgelöst.

„Komm, ich helfe dir.“ Lennox kniet sich an meine Seite und hilft mir vorsichtig auf meine zitternden Beine. Mein Gesicht brennt von ihren Schlägen, und ich spüre, wie sich meine Haut anspannt. Im Moment kann ich mir vorstellen, wie sich ein Boxsack fühlt.

„Was um Himmelswillen ist passiert?“, japse ich schwer atmend und suche Lennox‘ Blick. Statt mir direkt zu antworten, zieht er mich ein Stück entfernt an einen Mauervorsprung und drückt mich hinunter, damit ich mich setze.

„Lennox? Warum verhält sie sich so? Wo ist Akira? Jetzt sprich endlich!“, verlange ich, während er meinen Kopf zwischen seine Hände nimmt und mein Gesicht untersucht. Ich erkenne ihn nur noch aus einem Auge, das andere ist zur Gänze zugeschwollen. Die Sirenen haben sich weiter genähert, und nun ist es an mir zu schreien.

„Bitte sage mir doch endlich, was passiert ist!“

Verdammt, wieso antwortet er nicht?

„Lennox, bitte!“, flehe ich.

„Du bist schuld! Wärst du nicht verschwunden, würde Max nicht hier liegen“, kreischt Tamara, die neben Maxwell sitzt und zwischen den Beinen der anderen hindurchschaut. Ihr Gesicht ist wutverzerrt, und neuerliche Tränen strömen aus ihren Augen. Hat sie mich gehört?

„Was meint sie damit? An was bin ich schuld?“, dränge ich, den Jungen vor mir zu antworten.

Die Sirene verstummt, als der Wagen neben uns hält. Sanitäter verteilen sich um Maxwell. Es dauert nicht lange, bis sie ihn auf eine Trage verfrachten. Tamara weicht ihm nicht von der Seite und verschwindet mit Keith im Krankenwagen.

Nun kommt einer der Männer auf uns zu. Lennox steht auf und macht ihm Platz, damit er mich in Augenschein nehmen kann. Er macht Anstalten, mich zu untersuchen, doch ich wehre ihn ab.

„Mir geht’s gut. Kümmern Sie sich um unseren Freund.“

„Sind Sie sich sicher? Mir wäre es lieber, wenn ich Sie kurz checke.“

„Nein, nein, danke. Alles in Ordnung.“

„Verraten Sie mir dann bitte, was hier geschehen ist?“

„Das wüsste ich auch gern. Ich bin erst seit zehn Minuten hier.“

Der Sanitäter runzelt die Stirn und sieht mich skeptisch an. Wer soll es ihm verdenken? So zugerichtet, würde ich mir selbst nicht glauben.

„Wir waren hier überall verteilt und sind hergeeilt, als wir einen Schuss gehört haben. Als wir ihn fanden, lag er bereits am Boden. Wo bringen Sie ihn hin?“, erkundigt sich  Lennox und mein Kopf ruckt zu ihm herum.

Ein Schuss? Maxwell wurde angeschossen?

Der Sanitäter mustert meinen Freund abschätzig von oben bis unten und richtet dann wieder seine Aufmerksamkeit auf mich. Mir ist unterdessen die Kinnlade nach unten geklappt, und ich schaue Lennox mit geweiteten Augen an. Auf Maxwell wurde geschossen.

„Wenn Sie sicher sind, dass sie meine Hilfe nicht brauchen?“, wendet sich der Rettungsdienst an mich, und ich schüttle stumm den Kopf. Mir fehlen die Worte.

Er erklärt uns, in welchem Krankenhaus die beiden untergebracht werden, und dreht uns kopfschüttelnd den Rücken zu, als er im Rettungswagen verschwindet. Er glaubt uns kein Wort.

„Lennox?“

„Es wäre besser gewesen, wenn sie dich untersucht hätten. Am besten wärst du direkt mitgefahren.“

Das Letzte, was ich brauche, ist ein längerer Krankenhausaufenthalt. Ich muss wissen, was geschehen ist.

„Wenn du mir nicht sofort erzählst, was hier los war, brauchst die Untersuchung dringender als ich“, drohe ich. Er weicht meinem Blick aus, und ich sehe deutlich, wie sein Adamsapfel hüpft.

„Sags mir. Was hat Tamara gemeint? An was bin ich schuld?“ Er atmet tief durch, ehe er mich direkt ansieht. Ich lese in seinen Augen, wie sehr er mit sich ringt. „Verdammt, Lennox, mach schon“, brülle ich. Meine Stimme bricht.

„Beruhige dich. Ich erzähle dir alles, aber wir müssen erst einmal hier weg.“ Ich schüttle den Kopf. Ich kann nicht mehr. Die Ungewissheit bringt mich zur Verzweiflung.

Wo ist Akira? Was ist passiert?

„Bitte sag mir doch endlich, was geschehen ist. Ich fühle mich wie eine kaputte Schallplatte, die hängenbleibt. Bitte, bitte, bitte. Wer hat Maxwell angeschossen? Wer hat euch so verletzt? Was ist genau vorgefallen? Und wo ist Akira?“, dränge ich auf ihn ein.

Er schnaubt resigniert und setzt sich wieder neben mich.

„Ihr wart verschwunden, und wir konnten euch nicht erreichen.“ Er seufzt leise. „Wir haben wie vereinbart 30 Minuten gewartet und dann angefangen, einen Suchtrupp zusammenzustellen. Kurz bevor wir los sind, tauchten Preston und Archie auf. Sie waren bewaffnet bis an die Zähne und haben nach euch gefragt“, erzählt er, während er mich intensiv anschaut und überlegt, ob er weitermachen soll.

„Und dann?“, frage ich beharrlich. Ich muss es wissen.

„Schließlich verloren sie die Geduld. Archie ist ausgerastet, hat Tamara bedroht und grob angepackt. Du hast ihre Verletzungen gesehen. Max ist auf ihn losgegangen, und sie haben heftig gekämpft. Preston war beinahe teilnahmslos. Es schien ihn nicht zu interessieren, aber sobald jemand von uns eingreifen wollte, hat er mit seiner Waffe gedroht. Dann hat er den Spaß am Zusehen verloren und sie mit einem Luftschuss auseinandergebracht.“

„Tamara ist sofort zu Max gestürmt, aber das war ein Fehler“, berichtet er weiter, und mir laufen kalte Schauer über den Rücken.

„Preston hat sie gegen uns benutzt. Er hat sie auf die Mauer gezerrt und gedroht, Tamara ins Meer zu werfen. In der Zwischenzeit hat Archie seine Aggressionen an Max auslassen. Er hat ihn wie einen Sandsack verprügelt.“

„Wir haben geschwiegen, aber nachdem Preston seine Waffe auf Max richtete, erklärte Tamara, dass ihr um die Ruinen gelaufen seid. Die Ratte hat sie wie eine Puppe weggeschubst und dann nach euch gesucht. Sobald er außer Sicht war, haben wir versucht, Archie zu überwältigen. Bei dem Waffenarsenal, das sie hatten, waren wir allerdings machtlos“, berichtet er und macht eine Pause. Mir ist mittlerweile übel, und ich fürchte mich vor dem, was kommt. Dennoch frage ich mit zittriger Stimme, „Was passierte dann?“

„Irgendwann tauchte Preston wütend mit Akira auf. Der hatte ihn deutlich verletzt, aber auch er hatte gegen eine Pistole keine Chance. Preston war außer sich. Er hat immer wieder nach dir gefragt, und dabei hat er nicht nur freundliche Worte benutzt, wie du siehst. Niemand konnte ihm eine befriedigende Antwort geben. Er hat seine Aggressionen an uns ausgelassen und Akira weiter attackiert. Schließlich sagte Preston, dass er ein Exempel statuieren würde, um uns zu zeigen, was unser Schweigen verursacht. Er zielte, ohne zu zögern, auf Maxwell und feuerte. Tamara ging sofort neben Max zu Boden und der Wichser hat ihr die Pistole an den Kopf gehalten. Akira versprach daraufhin, dich zu holen, wenn er uns in Ruhe lässt.“

„Und wo ist er jetzt?“, flüstere ich. Meine Stimme zittert und ich fürchte mich vor er Antwort.

„Wenn er nicht dagewesen wäre, wären nicht nur Max sondern einige andere im Krankenhaus.“

Ich bin kurz davor mich vor ihm zu übergeben.

„Bitte“, keuche ich mit einer Stimme, die von Tränen erstickt wird.

„Akira versuchte, Preston eine Lüge aufzutischen, aber der glaubte ihm nicht.“

„Und wo ist Akira?“, hauche ich und spüre, wie sich mein Herz vor Schmerz zusammenzieht. Das darf nicht wahr sein. Nicht schon wieder.

„Sie haben ihn mitgenommen. Wir haben nicht alles gehört, aber sie sind zum Hotel gegangen. Akira hat uns signalisiert, dass wir hierbleiben sollen. Sobald sie weg waren, haben wir uns um Max gekümmert. Wir haben sofort den Notruf und die Polizei informiert. Nach dem letzten Vorfall bezweifle ich allerdings, dass sie ernsthaft handeln werden. Vielleicht haben wir Glück, und die drei sind noch dort“, erklärt er. Kaum eine Sekunde nachdem er geendet hat, stehe ich auf und gehe zum Wagen.

Lennox folgt mir und setzt sich ans Steuer. Henderson und Jamie klettern schweigend auf die Rücksitze, während ich mich auf den Beifahrersitz setze.

Mein Verstand ist krampfhaft dabei alles zu verarbeiten, doch die Informationen sickern nur langsam durch. Eine angespannte Stille liegt über uns. Ich fühle mich, wie elektrisch aufgeladen.

„Warum hat niemand bemerkt, dass diese Verrückten hier waren? Ich dachte, alles wäre in Ordnung?“, dränge ich hervor und fixiere meinen Blick stur geradeaus.

„Wir haben Wache gehalten, aber wir konnten nicht überall sein“, antwortet jemand von hinten, und ich zucke zusammen. Ich hatte vergessen, dass außer mir und Lennox noch andere im Wagen sitzen.

Ich atme aus und schließe meine brennenden Augen.

All meine verbleibende Kraft scheint sich auf einmal aus meinem Körper zu verabschieden. Meine Gedanken drehen sich einzig um die Tatsache, dass Akira in Prestons Gewalt ist.

Wenn Preston schon so skrupellos auf Max reagierte, was wird er dann mit ihm anstellen? Akira wollte Tamara beschützen, das verstehe ich, aber hätte es keine andere Möglichkeit gegeben? Warum hat er ihn nicht in die Tunnel geschickt? Er hätte mich nie gefunden.

„Tief durchatmen, Prinzessin. Alles wird wieder gut werden. Mach dir keine Sorgen“, beschwört Lennox mich und tritt das Gaspedal durch. Ich nicke abwesend, aber die Übelkeit und das Gefühl des Verlusts bleiben bestehen.

Mit quietschenden Reifen schlittern wir über den Parkplatz vor der Pension. Der Splitt wirbelt auf und der Wagen schwankt leicht, bevor er stehen bleibt.

Mit zitternden Fingern öffne ich die Tür und stelle mich auf meine wackeligen Beine. Zwei Streifenwagen mit Blaulicht zeigen, dass die Polizei bereits vor Ort ist. Ich renne auf den Eingang zu.

Ich muss wissen, ob es ihm gut geht.

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Kapitel 2

„Sophie, nein, bleib hier“, brüllt Lennox mir hinterher und flucht unflätig.

Lass ihn hier sein. Bitte, bitte, bitte lass ihn hier sein. Ich eile zur Tür und stolpere über meine Füße. Nur mit Glück finde ich mein Gleichgewicht wieder, bevor ich auf den Boden stürze. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, als ich die Tür aufreiße. In diesem Moment umschlingt mich ein kräftiger Arm um die Mitte und das Blatt fällt krachend ins Schloss zurück. Was soll das?

„Lass mich los“, fauche ich und winde mich. Lennox ist unerbittlich, und meine Kraft reicht nicht aus, um mich gegen ihn zu wehren.

„Du darfst nicht kopflos da rein rennen. Wir müssen vorsichtig sein. Was denkst du, wird geschehen, wenn du der Polizei in die Quere läufst?“ Lennox hält mich weiter in seinem Klammergriff gefangen, doch ich schüttele wie von Sinnen den Kopf.

„Ich muss zu ihm“, halte ich dagegen. Er lässt nicht locker.

„Und wenn du Preston in die Arme rennst? Denkst du, das ist es, was Akira will?“ Verdammt, er hat recht. Aber ich kann nicht tatenlos hier stehen und darauf warten, dass jemand herauskommt. Frustriert stöhne ich auf und lasse meine Gegenwehr fallen. Ich hätte es sowieso nie geschafft, mich aus seinen Armen zu befreien.

„Kann ich dich jetzt loslassen?“, will er wissen, und ich nicke ergeben. Heiße Tränen der Machtlosigkeit laufen mir über die Wange, und ich wische sie hilflos mit dem Handrücken weg. Langsam lockert er seinen Griff und dreht mich zu sich um, sodass er mir in die Augen schaut.

„Wir treten jetzt ganz entspannt ein. Bis wir wissen, was los ist, bleibst du hinter mir, klar?“ Seine Stimme ist streng und wieder nicke ich stumm. Sanft wischt er eine salzige Kugel fort und lächelt mich aufmunternd an.

Auch wenn sich alles in mir gegen seinen Vorschlag aufbäumt, halte ich mich besser an seinen Plan, bevor er mich im Wagen einsperrt.

Henderson und Jamie steigen aus dem Auto und postieren sich daneben wie Bodyguards. Lennox schiebt mich unterdessen hinter sich und öffnet langsam die Tür. Wie versprochen bleibe ich in seinem Schatten. Anders als erwartet ist hier nicht die Hölle los. Die Polizisten stehen an der Theke und sprechen in aller Seelenruhe mit Anna, die aus voller Kehle lacht.

„Was zum …“, entfährt es mir, und ich trete hinter Lennox hervor. Wir bleiben perplex im Raum stehen und starren auf die Gruppe Männer. Die sehen aus, als wären sie zum Kaffeeklatsch hier. Mir weicht die Farbe aus dem Gesicht. „Preston war niemals hier“, wispere ich. Meine Kinnlade gleitet ungläubig nach unten, und meine Augen füllen sich mit neuen heißen Tränen. Lennox steuert auf Anna und den Beamten zu, mit dem sie sich unterhält.

„Was ist hier los?“ Ich höre, wie er darum kämpft, seine Stimme ruhig zu halten.

„Bist du derjenige, der angerufen hat?“, schnauzt einer der Uniformierten und wirft einen skeptischen Blick auf meinen Begleiter.

„Was machen Sie hier? Ich dachte, Sie würden einen Flüchtigen festnehmen, statt einen netten Plausch zu halten. Er ist gefährlich und hat eine Geisel genommen“, platzt es aus Lennox heraus. Sein Körper ist angespannt, und ich bin mir sicher, dass er kurz davor steht, die Beherrschung zu verlieren.

Die Antwort scheint seinem Gegenüber nicht zu gefallen. Er richtet sich zu seiner vollen Größe auf und sieht herablassend von ihm zu mir. Bei meinem Anblick stockt er, fängt sich aber schnell wieder.

„Pass lieber auf, dass wir dich nicht wegen Vortäuschens falscher Tatsachen festnehmen, junger Mann.“

Ich bin fassungslos. Wie ein mechanischer Wackeldackel schüttele ich den Kopf und starre zwischen den Männern hin und her.

Das muss ein Witz sein. Ein schlechter Witz oder besser noch ein Albtraum. Ja, genau. Das ist ein Albtraum, und ich wache nicht auf.

„Was meinen Sie damit?“, bringe ich unter größter Anstrengung hervor.

„Ich meine damit, dass keiner außer uns hier ist, Kleine. Wäre Anna nicht so liebenswürdig und hätte sich für euch eingesetzt, würde ich euch auf der Stelle in Gewahrsam nehmen. Wobei du eher in ein Krankenhaus gehörst, so wie du aussiehst. War er das?“ Wieder mustert er mich. Mit verengten Augen gleitet sein Blick über Lennox. Ich schaffe nicht mehr als ein Kopfschütteln. Meine Beine werden immer wackeliger. Er war nicht hier. Anscheinend nie hier gewesen.

Was hat Preston vor? Was hat er ihm angetan?

Ehe mir meine unteren Gliedmaßen ihren Dienst versagen, legt Lennox seine Arme um mich und gibt mir Halt.

„Du solltest dich um sie kümmern, bevor sie umkippt“, schnarrt der Beamte und wendet sich von uns ab, als wären wir es nicht wert, beachtet zu werden.

Ohne auf ihn einzugehen, schleift Lennox mich zur Tür und hebt mich vollends vom Boden hoch, um mich zum Wagen zu bringen.

„Ich glaube, du solltest dich ausruhen, Prinzessin“, flüstert er mit mitleidiger Stimme und setzt mich auf den Beifahrersitz. Tränen brennen in meinen Augen, und ich japse nach Luft. Mir wurde vor 20 Minuten der Boden unter den Füßen weggezogen, und nun hat sich ein zusätzliches, klaffendes Loch aufgetan.

Noch ein kleiner Schritt, und ich werde darin verschwinden und nie wiederauftauchen.

„Was ist passiert?“, höre ich Jamie’s Stimme gedämpft und schrecke zusammen. Die beiden habe ich total ausgeblendet.

„Lasst uns überlegen, wie wir Akira finden. Außerdem sollten wir uns nach Max und Tamara erkundigen, und Sophie muss sich ausruhen“, erklärt Lennox, nachdem er ihnen berichtet hat, was vorgefallen ist.

Ich hebe den Kopf, um die Jungs anzusehen und ihnen klarzumachen, wie wichtig es ist, dass wir uns beeilen, doch plötzlich schwinden meine Kräfte. Alles um mich herum dreht sich. Die Gestalten der anderen werden zunehmend verschwommen, bis es schwarz wird.

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Kapitel 3

Schwer atmend schrecke ich auf und kämpfe gegen das Angstgefühl an, welches mir die Luft abschnürt. Die Nacht ist hereingebrochen. Ich brauche einen Moment, um mich zu orientieren.

Wo bin ich und wie bin ich hierhergekommen?

Die Erinnerungen schleudern mich mit voller Wucht in die Realität, und ich schnappe nach Luft. Ich liege im Bett der Pension, in der wir nach Archies bewaffnetem Überfall untergekommen sind. Mein Blick gleitet über die verlassene Bettseite, und mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen. Das Laken ist kalt und leer. Genau wie ich mich fühle.

Er ist nicht hier. Verdammt, es ist kein Albtraum.

Preston hat ihn entführt. Diesmal hat er Akira wirklich in seiner Gewalt. Was wird er ihm antun?

Mir läuft ein Schauer über den Rücken. Sofort spüre ich Übelkeit in mir aufsteigen, während sich meine Kehle zuschnürt. Auf dem Nachttisch neben mir steht ein Teller mit Brot und ein ehemals warmer Tee. Ein Blick genügt, und mein Magen dreht Pirouetten. Bloß kein Essen.

Vielleicht haben die Jungs bereits herausgefunden, wo sich Preston versteckt hält. Ich sollte zu ihnen, um zu helfen. Vielleicht können wir Akira noch heute zurückholen. Sobald ich an die grauen Augen denke, die sein Gesicht zieren, verschwimmen Tränen meine Sicht. Mit zitternden Fingern streiche ich über die leere Bettseite und stoße schwer die Luft aus.

Schluss damit, es wird Zeit zu handeln.

Ich schüttle den Kopf, um die Gedanken aus meinem Hirn zu vertreiben, und schwinge die Beine aus dem Bett. Hastig ziehe ich mich um und trete, mit durchgedrücktem Kreuz, in den Flur hinaus. An der ersten Tür, hinter der Lennox sein sollte, klopfe ich an. Niemand öffnet oder bittet mich herein.

Mit gerunzelter Stirn drücke ich die Klinke nach unten, doch das Holz bewegt sich keinen Millimeter. Verunsichert wandere ich zu den restlichen Türen, aber nirgendwo vernehme ich einen Laut. Alles bleibt gespenstisch still.

Was ist los? Wo sind sie? Haben sie bereits einen Plan und sind dabei, ihn umzusetzen? Bin ich allein?

Ratlos schlage ich den einzigen Weg ein, der mir bleibt, und schon auf der Treppe höre ich ihre gedämpften Stimmen.

Ich beschleunige meine Schritte, bis ich die letzte Stufe erreiche, und bleibe wie angewurzelt stehen.

Was, wenn sie mich nicht dabei haben wollen? Wenn sie der Meinung sind, dass ich dieses Unglück zu verantworten habe?

„Nein, wir haben keine Zeit zu verlieren“, reagiert Henderson auf etwas, das ich nicht gehört habe, und meine Stirn legt sich in Falten.

 Was meint er? Was ist passiert? Wie viele Stunden sind vergangen, seitdem wir die Ruinen verlassen haben?

Von der letzten Stufe aus betrachte ich, die Szenerie vor mir. Meine verbliebenen Freunde haben sich um die große Tafel herum verteilt. Sie sind über Tablets und Karten gebeugt und unterhalten sich leise miteinander. Mein Blick schweift durch den Raum. Nur drei Menschen fehlen in der Runde, und ich spüre einen Stich in Höhe meines Herzens.

Einer unerklärlichen Übelkeit erfasst mich. Die Wand verengt sich langsam, während ein seltsamer Schwindel sich in meinem Kopf ausbreitet. Jeder Atemzug ist eine Herausforderung. Die Luft ist dünn und unzureichend.

Hoffentlich ist Max bald wieder gesund. Und Tamara? So habe ich sie noch nie erlebt. Ob sie mir jemals verzeiht?

Zitternd suche ich halt an der Wand.

„Hallo“, mache ich mich bemerkbar, steige die letzte Stufe hinab und sehe in die aufgeschreckten Gesichter. Lennox reagiert als Erstes und kommt auf mich zu.

„Prinzessin, du solltest dich ausruhen“, meint er in ruhigem Tonfall. „Komm, ich bringe dich wieder nach oben.“

Er will seinen Arm um mich legen, doch ich weiche ihm schnell aus und trete einen Schritt zur Seite.

„Habt ihr etwas herausgefunden?“, will ich wissen und räuspere mich, um meiner Stimme mehr Kraft zu verleihen. „Wisst ihr, wo er ist?“ In den Gesichtern suche ich nach einer Antwort, doch sie weichen mir aus. „Wir hatten alle einen Peilsender. Könnt ihr ihn nicht finden?“

Hoffnungsvoll schaue ich zu Ian und Jamie, die direkt vor dem Tablet sitzen und auf den Bildschirm starren.

„Wir konnten das Signal zwar verfolgen, doch als wir an dem Standort ankamen, haben wir lediglich seine Jacke gefunden, wo der Sender angebracht war“, klärt Jamie mich auf, und ich schließe ergeben die Augen. Die Stille, die sich in dem Zimmer ausbreitet, ist zäh wie Sirup.

Ich versuche, ruhig zu bleiben, aber meine Hände zittern, und meine Kehle fühlt sich eng an. Verdammt.

 Das bedeutet, wir haben keine Ahnung, wohin sie ihn verschleppt haben. Auf wackeligen Beinen gehe ich zu ihnen und schaue auf den Bildschirm. Lennox folgt mir und stellt sich dicht hinter mich, als ich mich setze. Es scheint, als rechnet er damit, dass ich jeden Augenblick zusammenklappe. Mit einem flauen Gefühl im Magen betrachte ich das blinkende Signal, über dem sein Name steht.

Ist das der Punkt, an dem er sich zuletzt aufgehalten hat? Hat er die Jacke absichtlich ausgezogen? War das ein Hinweis? Hat er versucht, uns eine Brotkrume zuzulegen, der wir folgen sollen, oder haben sie den Peilsender gefunden? Das Ding war klein. Kaum vorstellbar, dass sie herausgefunden haben, dass er damit ausgestattet war.

Meine Gedanken fahren mal wieder Achterbahn, und ich brauche einen Augenblick, um nicht die Fassung zu verlieren.

„Was machen wir jetzt? Habt ihr einen Plan?“

Ich kralle meine Finger um das Holz der Bank, auf der wir sitzen, bis es schmerzt. Nur mit Mühe schaffe ich es, meine Stimme beherrscht klingen zu lassen.

„Siehst du die Punkte hier?“, will Ian wissen und deutet auf verschiedenfarbige Leuchtsignale. Ich nicke und sehe mir die Markierungen genauer an. „Das sind mögliche Orte, an denen sie sich verkrochen haben könnten“, erklärt er, und ich runzle die Stirn.

„Wollen wir jeden einzelnen Punkt abfahren? Ist das der Plan?“, frage ich in die Runde.

„Ja, aber um ehrlich zu sein, fühlt es sich an, als suchten wir die Nadel im Heuhaufen“, flüstert Jamie. Es ist, als ob die Realität mich erdrückt und die Ohnmacht droht, mich zu übermannen.

Die hilflose Frustration bringt mein Innerstes zum Beben, während ich kämpfe, um mich gegen die überwältigende Ausweglosigkeit zu behaupten. Lennox legt besänftigend eine Hand auf meine Schulter und spricht meinen Kosenamen aus, was mich zusammenzucken lässt.

Ich räuspere mich, um meiner Stimme mehr Festigkeit zu verleihen. „Gibt es eine andere Option? Wir müssen handeln. Wer weiß, was sie ihm antun könnten“, erkläre ich, während ich mich zu Lennox umdrehe.

„Wir brauchen eine Strategie, um ihn zu finden. Erst wenn wir alle Möglichkeiten in Betracht gezogen haben und vorbereitet sind, können wir etwas unternehmen“, hält Henderson dagegen, der auf der anderen Seite des Tisches steht und das Gespräch verfolgt hat.

Mein Kopf schnellt zu ihm herum und mein Mund klappt auf, doch kein Ton dringt über meine Lippen. Innerlich schreie ich, dass wir handeln müssen. Meine Fingernägel bohren sich in die harte Oberfläche der Bank, bis der Schmerz meine wütenden Gedanken zum Schweigen bringt.

„Wenn wir eine Möglichkeit hätten, mit ihnen Kontakt aufzunehmen, könnten wir sie vielleicht orten oder zumindest den Radius verkleinern“, erklärt Lennox, und ich wende ihm wieder mein Gesicht zu.

Kontakt zu Preston aufnehmen, geht das überhaupt?

Ein Gedanke formt sich in meinem Kopf. Er kämpft darum, an die Oberfläche zu gelangen, wird aber von meiner Sorge überdeckt.

Eine Diskussion über das weitere Vorgehen entflammt, und ich höre ihnen stumm zu, versunken in meine Gedanken.

„Hätten wir seine Nummer, wäre es kein Problem, sie zu finden“, meint Henderson flapsig und dieser Kommentar bringt mich zur Besinnung. Mit der flachen Hand schlage ich mir gegen die Stirn. Wie konnte ich das vergessen?

„So dumm“, fluche ich laut und ernte verwunderte Blicke.

„Wir können Kontakt zu ihnen aufnehmen. Preston hat es bestimmt schon versucht“, murmele ich. Hastig stehe ich auf und renne die Treppe nach oben in mein Zimmer.

Aufgeregt durchwühle ich meine Sachen, dann die Schubladen, und zum Schluss rutsche ich sogar unters Bett. Sobald ich fertig bin, sieht es aus, als wäre eine Bombe eingeschlagen. Überall sind Kleidungsstücke verteilt, und die Schränke und Schubfächer stehen offen.

„Verdammt, wo ist es?“, knurre ich verzweifelt.

„Prinzessin?“, erklingt Lennoxs Stimme hinter mir, doch ich wende mich nicht um.

„Wo ist mein Handy? Hast du es gesehen?“ Mit dem Oberkörper stecke ich zur Hälfte im Schrank, als ich den verbliebenen Inhalt wiederholt durchsuche.

„Wir haben es mitgenommen. Der Akku war leer“, erklärte er. Ich richtete mich kerzengerade auf und schaue ihn an.

„Wo ist es?“ Ich kämpfte mich in die Höhe. Meine Brust hebt und senkt sich hastig, vom Suchen angeregt, und ich gehe auf ihn zu.

„An der Steckdose. Wie gesagt, die Batterie war leer. Was willst du damit?“, erkundigt er sich irritiert und scheint besorgt über meinen Geisteszustand zu sein.

„Verdammt, der Akku. Stimmt“, entfährt es mir, und ich dränge mich an ihm vorbei. Er hält mich nicht auf, folgt mir jedoch dicht auf den Fersen.

„Als Preston mich am Flughafen zu sich gelockt hatte, hat er mich angerufen. Er hat es garantiert wieder versucht. Nur ist jetzt mein verdammter Akku leer. An welcher Steckdose hängt es?“, verlange ich zu wissen, während Lennox an mir vorbeistürmt.

„Geh zu den anderen, ich komme zu dir“, fordert er, öffnet seine Tür und verschwindet in seinem Zimmer. Sprachlos starre ich auf das geschlossene Holz, bevor ich seinem Wunsch nachkomme und die Treppe nach unten nehme.

Nach kaum zwei Minuten taucht er mit dem dringend benötigten Gerät bei der Gruppe auf und hält mir das Handy entgegen. Mit zitternden Fingern nehme ich es an und gebe den Pin ein.

Mein Blick ist fest auf das Display gerichtet, das kurz aufleuchtet, und ich bereite mich darauf vor, dass es gleich in einer endlosen Schleife brummen wird.

Statt meine Erwartungen zu erfüllen, vibriert es kurz, verstummt aber sofort und wird dunkel.

„Was?“

„Anscheinend ist noch kein Saft drauf. Es muss nochmal ans Kabel“, erklärt Ian. Ich schüttele den Kopf.

„Wir haben keine Zeit“, beharre ich und drücke abermals den Knopf. Es regt sich nicht.

Lennox zieht es mir aus der Hand und reicht es an Ian weiter. Spinnt der?

„Lass es noch einen Moment laden“, meint dieser und schiebt ein Kabelende in die Buchse, während er sich abwendet und hinter Lennox‘ Rücken verschwindet.

Na toll, wie lange soll das dauern?

Ich neige meinen Kopf zur Seite, um Ians Bewegungen zu verfolgen, doch Lennox legt seine Hände auf meine Schultern und zwingt mich, ihn mit leichtem Druck anzusehen.

„Wann hast du das letzte Mal etwas gegessen?“, höre ich seine‘ Stimme und schüttle geistesabwesend den Kopf. Wie kann er jetzt ans Essen denken?

„Keine Ahnung, ich habe keinen Hunger“, erwidere ich unwirsch. Die Antwort scheint ihm nicht zu gefallen.

Er verzieht missmutig das Gesicht. Seine Stirn runzelt sich, und seine Lippen kräuseln sich in einem Ausdruck des Unbehagens.

„Du musst etwas essen, Sophie. Ich will nicht, dass du wieder zusammenklappst“, erklärt er mit fester Stimme und betrachtet mich eindringlich.

Sophie? Wenn er nicht meinen Kosenamen verwendet, muss die Sache ernst sein. Ich hebe eine Braue und gebe ihm widerwillig Recht.

„Wir sollten an einem Plan arbeiten. Wenn Preston sich bei uns meldet, müssen wir vorbereitet sein. Wir müssen dringend herausbekommen, wo sie sind“, weise ich ihn auf das Offensichtliche hin. Ich kann mich jetzt nicht auf so etwas Banales wie Essen konzentrieren.

„Es ist wichtig, dass wir ausgeruht sind. Jeder von uns. Es bringt nichts, wenn du in Ohnmacht fällst, falls wir Preston gegenüberstehen sollten.“

„Aber …“

„Keine Widerrede!“, sagt er, als er meine Schultern packt, mich dreht und mich die Treppe hinaufschiebt, sodass ich keine andere Wahl habe, als nach oben zu gehen. Er begleitet mich bis in mein Zimmer und schließt die Tür hinter sich. Sein Verhalten reizt mich ungemein.

Was denkt er sich dabei?

„Und jetzt? Willst du warten, bis ich im Bett liege?“

„Nein, ich leiste dir Gesellschaft beim Essen und danach versorge ich deine Wunden. Du siehst aus, als wärest du unter einen LKW geraten, und ich wette, so fühlst du dich auch.“ Seine Stimme bleibt ruhig, unbeeinflusst von meiner Gereiztheit. Resigniert schließe ich die Augen und atme tief durch.

„Das ist so dumm. Lass uns an einer Lösung arbeiten, statt hier herumzusitzen“, fordere ich ihn auf und versuche, an ihm vorbei zum Ausgang zu gelangen. Er hält mich auf, bevor ich auch nur einen Schritt Richtung Tür mache.

Gelassen schüttelt er den Kopf, dreht mich um und drückt mich mit einer Hand zwischen meinen Schulterblättern auf das Bett. Sobald mein Hintern die Matratze spürt, schreit mein Körper geradezu danach, sich hinzulegen, und ich seufze auf. Meine Rippen sind noch immer geprellt.

Das Schwimmen und die Plackerei unter den Ruinen waren nicht hilfreich gewesen, und Tamaras Wutanfall hatte ebenfalls nicht zu meiner Heilung beigetragen. Sein Vergleich mit dem LKW war gar nicht so weit hergeholt, eher fühlt es sich an wie eine ganze Kolonne.

„Mir geht es gut. Das ist Zeitverschwendung.“ Ich versuche versöhnlicher zu klingen und schaue ihn von unten nach oben an.

„Verstehe ich, aber darüber diskutiere ich nicht. Du musst etwas zu dir nehmen. Die Idee mit deinem Handy war fantastisch. Die Ereignisse überschlagen sich so schnell, dass ich nicht daran gedacht habe“, bemerkt er und sein Lob lässt mich noch mieser fühlen. Eilig senke ich den Blick und atme tief durch. Ich höre, wie er sich mir gegenüber auf einen der kleinen Stühle in der Ecke setzt, und ich schiele zu ihm hinüber.

„Wenn du gegessen hast, geht’s dir besser“, flüstert er und nickt in Richtung Nachttisch. Meinem Schicksal ergeben, greife ich nach dem Teller und dem Brot. Sobald sich der Geschmack in meinem Mund ausbreitet, verschlinge ich es regelrecht.

Wow, ich habe nicht gedacht, dass eine belegte Stulle so lecker sein kann. Wieso habe ich mich dagegen gewehrt? Essen ist toll.

Er beobachtet mich, und ein amüsiertes Lächeln zeichnet sich auf seinen Lippen ab. Wenn er jetzt einen dummen Spruch bringt, werfe ich ihm mein Kissen an den Kopf.

„Wie steht es um Max und Tamara? Habt ihr was von ihnen gehört?“ Meine Stimme klingt belegt, als ich die Frage ausspreche und den Teller zur Seite stelle.

„Den Umständen entsprechend. Max hat viel Blut verloren, aber sie päppeln ihn wieder auf. Tamara geht es gut. Sie wollte sich nicht von ihm trennen, noch nicht einmal, als sie ihn in den OP gefahren haben. Die Ärzte haben sie ruhig gestellt. Ich denke, es tut ihr gut nach dem ganzen Drama.“ Oh mein Gott, und das nur wegen mir.

„Sie war ziemlich fertig.“ Sofort blitzen die Bilder und ihre Worte wieder auf. Ich sehe ihren Gesichtsausdruck und höre ihre Vorwürfe, als hätte sie mir diese gerade erst entgegengeschrien.

„Du weißt, dass du nicht dafür verantwortlich bist, oder?“, fragt Lennox, als hätte er meine Gedanken gelesen, und ich kneife die Augen zusammen. Ich nicke mechanisch, doch wenn er wüsste, wie weit seine Worte von der Wahrheit entfernt sind, wäre er nicht mehr so freundlich.

In Wirklichkeit bin ich an all dem schuld. Schuld an dieser ganzen Misere. Wäre ich damals nicht mit Bella abgehauen, wären wir Preston nie begegnet.

Müde reibe ich mir über die Stirn und ignoriere das schnell schlagende Herz in meiner Brust. Immer wieder höre ich Tamaras Worte und sehe ihr tränennasses Gesicht vor mir, sodass ich mit der Hand die unsichtbaren Gedanken zur Seite wische.

„Ich bin müde. Geh ruhig wieder nach unten. Ich werde jetzt schlafen“, sage ich und schiebe mich bereits unter die Decke. Lennox sieht mich erst überrascht und dann argwöhnisch an.

„Du kannst für all das nichts, Prinzessin. Preston hat sie nicht mehr alle, so einfach ist das. Wäre er dir nicht begegnet, würde er das Leben einer anderen Frau auf den Kopf stellen und hätte wiederum den Freund einer Fremden niedergeschossen.“

Ich weiche seinem wachsamen Blick aus. Es ist lieb, dass er das sagt, doch wir wissen beide, dass dem nicht so ist. Sobald ich auf der Matratze liege, rolle ich mich zu einer Kugel zusammen. Kein Wort kommt mehr über meine Lippen.

In meinem Kopf brülle ich ihn an, dass es keine andere war, sondern ich. Dass es meine Freundin und deren Freund betrifft und nicht eine unbekannte, gesichtslose Person.

Lennox kommt auf mich zu und steht unschlüssig vor dem Bett. Er sieht auf mich herab, doch ich kneife die Augen zu und reagiere nicht. Nach ein paar Minuten des Schweigens verlässt er mein Zimmer und ich bleibe allein zurück.

Die Stille breitet sich schwer um mich aus und scheint mich zu erdrücken. Jetzt legt mein Kopf richtig los. Die Gedanken kreisen um Akira, um Preston, um Tami, um Maxwell und diese vermaledeite Prophezeiung. Könnte ich doch nur die Zeit zurückdrehen.

Tränen treten mir in die Augen, doch ich gewähre es ihnen nicht, meine Wangen hinabzurollen. Ich schiebe die Arme vor mein Gesicht und grabe die Finger in meine Haare, während ich die Beine anziehe, sodass meine Rippen ächzen. Wäre ich nur nie auf Bella abgehauen. Dann wäre mir Preston nicht begegnet und diese ganze Situation nie entstanden.

Ich stöhne auf, als der Schmerz unerträglich wird und meine Kopfhaut prickelt. Mit den Fäusten trommle ich auf das Laken und das salzige Nass löst sich aus meinen Augen.

Wieso haben wir den anderen nicht gesagt, wo wir hin sind? „Weil es keinen Unterschied gemacht hätte“, höre ich eine leise Stimme, die sich verdächtig nach Akira anhört. Ich dränge sie in den Hintergrund, bis sie beinahe verstummt und meine Gedanken fahren weiter Achterbahn.

Mein Hirn fährt in der Zeit zurück zu Tamara.

Ich sehe sie wieder vor mir. Höre ihre Worte und spüre ihre Wut, die mich mehr trifft als jeder ihrer Schläge. Sie will mich bestimmt nie wiedersehen.

Unwirsch vertreibe ich sie aus meinen Erinnerungen und statt meiner Freundin, sehe ich Max vor mir. Das Bild von ihm brennt sich unaufhaltsam in meinen Gedanken. Ich sehe, wie sich das Blut unter seinem Körper sammelt. Das lebendige Rot, das sich auf dem Boden zu einer unheilvollen Pfütze formt. Ich betrachte die Szene in meinem Kopf - wie er in dieser roten Lache liegt, wie sich seine Brust mühevoll hebt und senkt.

Ich versuche, diesen Anblick zu verdrängen, aber er schiebt sich ungefragt vor mein geistiges Auge und ich schnappe nach Luft.

Es fühlt sich an, als würde ich ebenfalls in dieser blutroten Szenerie versinken. Das Bild seines blassen, schlaffen Körpers hat sich praktisch in meinen Geist eingebrannt und es schaudert mich, die Erinnerung an seine verletzliche Gestalt zu durchleben. Ich fühle mich, als ob ich auf einmal in einem eiskalten Raum gefangen bin, umgeben von der Lähmung und der Furcht, die dieser Moment in mir auslöste.

Er wird mir nie verzeihen.

Diese Tatsache drängt sich mir auf, wie ein unentrinnbares Schicksal. Seine Augen werden mich immer mit diesem ungesagten Vorwurf betrachten. Das Karussell in meinem Kopf dreht sich weiter und bleibt an Akira und Preston hängen, sodass ich frustriert aufstöhne. Wie stelle ich das aus?

Ich versuche, nicht an die beiden zu denken. Immer wieder kreisen meine Gedanken darum, ob alles anders verlaufen wäre, wenn sie miteinander gesprochen hätten.

Wäre Preston ein anderer Mensch geworden, wenn dieses Mädchen nicht in sein Leben getreten wäre? Hätte Akira etwas anders machen können, um die Situation zu ändern?

Ich frage mich, ob es Akira gut geht, aber ich fürchte, dass dies nicht der Fall ist.

Unablässig formen sich grausame Szenarien in meinem Kopf, jede noch schrecklicher als die vorherige. Mit jeder Wiederholung wird das Bild, das sich in meinem Geist abspielt, noch düsterer.

Ich rolle mich zurück auf den Rücken und blinzele gegen das helle Licht, das in meine Augen brennt. Es ist viel zu grell, doch es lässt die unangenehmen Gedanken in meinem Kopf ein wenig zu verblassen.

Mühevoll versuche ich, an nichts zu denken, aber wie immer funktioniert es nicht. Nicht einmal in dieser hell erleuchteten Umgebung.

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Kapitel 4

Die Tür öffnet sich. Ich muss mich nicht bewegen, um zu wissen, dass Lennox wieder da ist. Hätte ich noch einen Funken Kraft in meinem Körper, würde ich ihn anschreien, damit er verschwindet, doch das schaffe ich nicht.

„Also, Prinzessin, ich habe hier Salbe, einen Kühlakku und einen Kräutertee.“

Meine Reaktion ist die eines Felsblocks. Ich starre an die Decke, ohne etwas zu erwidern. Unbeeindruckt kommt er auf mich zu und setzt sich neben mich. Er achtet nicht darauf, dass ich mittig im Bett liege und für ihn kein Platz ist. Mein Desinteresse übergeht er, indem er den Tiegel aufschraubt und eine Portion der Salbe auf meine Blessuren verteilt. „Morgen um diese Zeit wirst du kaum noch etwas davon sehen.“

„Das einzig Wichtige ist, dass wir Akira befreien“, flüstere ich.

„Nein. Nur wenn wir alle fit sind, haben wir eine Chance, ihn zu retten. Du musst gesund sein, um es mit Preston aufzunehmen. Ich dachte, das wäre dir inzwischen klar.“

„Mir geht es gut. Ich habe nur ...“

„Papperlapapp. Dir kann es nicht gut gehen.“ Er bedeckt die mit Creme versorgten Stellen mit einem Tuch und legt vorsichtig den Kühlakku darauf.

„So, das hätten wir. Willst du einen Schluck Tee?“

„Wie soll ich trinken? Ich kann mich kaum bewegen.“

„Du bist zickig, wenn du schlechte Laune hast. Hat dir das schon mal jemand gesagt?“

„Ein- oder zweimal.“ Trotz meines Versuchs, mein depressives Tief aufrechtzuerhalten, lässt sich ein Grinsen auf meinem Gesicht nicht verhindern. Kaum zu glauben, dass ich dazu überhaupt noch in der Lage bin.

„Na, wenigstens etwas. Jamie meinte, das mit dem Handy dauert noch ein bisschen und sie holen uns, sobald es funktioniert.“

„Was genau willst du mir damit sagen?“

„Für dich gibt es nichts zu tun, als dich auszuruhen.“ Er lächelt und stützt sich auf seinen Armen ab. Super. Genau das, was ich nicht wollte. Hier herumliegen und mich von meinen Gedanken quälen lassen.

„Du machst dir Vorwürfe wegen allem, was passiert ist. Richtig?“ Woher weiß er das?

„Nein.“

„Gut, es wäre nämlich vollkommener Quatsch, wenn du das tätest. Weißt du, ich kenne Akira schon lange und bin mir sicher, dass er alles wiederholen würde, wenn er die Wahl hätte.“

„Das bedeutet aber nicht, dass ich das ebenfalls würde.“

„Nicht? Du hättest dich beim ersten Mal also nicht auf Prestons Spiel eingelassen?“, will er wissen und zieht eine Augenbraue in die Höhe, während er mich mustert.

„Doch klar, aber ...“

„Dann hättest du dich nicht für Akira geopfert, als du dachtest, er wäre gekidnappt worden?“

„Das hätte ich natürlich. Das meine ich nicht und das weißt du“, fahre ich ihn an und rutsche zur Seite, um ihm ein bisschen mehr Platz zu geben.

„Du konntest von all dem, was geschehen ist, nichts beeinflussen. Du warst nicht einmal anwesend. Als wir uns Akira angeschlossen haben, kannten wir die Risiken und jeder von uns würde es wiederholen.“

„Ich denke nicht, dass du für Max sprichst. Der hätte mit Sicherheit anders entschieden. Er wusste damals nicht, dass er mit einem Loch mehr in seinem Körper auf der Intensivstation landet. Außerdem habt ihr nicht mit Preston gerechnet, das steht mit der Prophezeiung nicht im Zusammenhang.“

„Glaube mir, wir haben mit Schlimmerem als Preston gerechnet“, sagt er, und ich runzle die Stirn. Was ist schlimmer als das?

„Was Max betrifft, kennst du ihn nicht gut genug. Sprächest du von einem x-beliebigen Menschen, wären deine Einwände berechtigt, aber nicht bei ihm. Der Typ ist aus einem anderen Holz geschnitzt, glaube mir. Tamara ist bei der ganzen Sache so etwas wie ein Bonus. Wusstest du, dass er Fallschirmspringen und Bungee-Jumping macht?“ Bitte, was? Max? Der stille Typ, dem meine Freundin ihr Herz geschenkt hat?

„Nie im Leben, so was würde ich eher dir zutrauen.“

„Danke für die Blumen, aber lebensmüde bin ich nicht. Ich habe zwar schon so einiges angestellt, doch ich hätte viel zu viel Angst, dass sich der Fallschirm nicht öffnet. Max würde genauso wie Akira immer wieder so handeln, wie er es tat. Selbst wenn es drei weitere Löcher bedeuten würde. Das ist ihm egal. Was ihm nicht egal ist, ist Tamara und seine Freunde. Dabei hast du es auch irgendwie in die engere Auswahl geschafft, selbst wenn ich nicht ganz begreife, wieso.“

Japsend hole ich Luft. Wie gemein ist das denn?

„Heyyy.“

„War nur Spaß, beruhige dich. Dich kann man nur ins Herz schließen“, meint er und zwinkert schelmisch.

„Selbst, wenn das alles stimmt, gibt es trotz allem noch mindestens eine Person, die mich abgrundtief hasst, und ich das verüble ich ihr nicht mal“, flüstere ich und wende den Kühlakku zwischen meinen Fingern.

„Blödsinn! Tamara war am Ende ihrer Kräfte und du ein super Ziel, um Frust und Angst loszuwerden.“

„Ich habe eher das Gefühl, dass ich der Grund dafür bin“, sage ich ehrlich und meine Stimme wird rau und meine Augen feucht. Lennox dreht vorsichtig mein Kinn in seine Richtung, um mir in die Augen zu sehen. Es scheint, als wolle er bis auf meine gepeinigte Seele dringen.

„Du hast sie nicht erlebt, als ihr verschwunden wart. Deine nervige Freundin ist ziemlich einschüchternd, wenn sie wie ein Kasten Teufelchen auf und ab springt. Sie hat Befehle wie einer der größten Kriegsgeneräle erteilt. Tamara hätte Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, nur damit ihr wiederauftaucht. Ich glaube, hätte Preston sie statt dir in die Finger bekommen, er hätte sie mit Zinsen zurückgegeben.“

Im ersten Moment reiße ich zwar die Augen auf, doch irgendwie ist das gut vorstellbar und ich grinse.

„Möglich“, gebe ich zu und schaffe es nicht, meine Mundwinkel in ihre Ausgangsposition zurückzubewegen.

„Wenn es ihr besser geht, wirst du sehen, dass sie es gar nicht so gemeint hat. Du nimmst dir die Worte anderer ziemlich schnell zu herzen. Wir sollten wohl daran arbeiten, dass du ein dickeres Fell bekommst.“

„Ich mag mein Fell so, wie es ist, und für mein bisheriges Leben hat es völlig ausgereicht“, halte ich dagegen und recke das Kinn.

„Willst du etwas schlafen? Du siehst immer noch fertig aus.“

„Eigentlich nicht. Ich will nicht allein sein. Irgendwie gewöhne ich mich allmählich an dich und ich glaube nicht, dass meine Träume erholsam sein werden.“

„Verstehe. Ich bin ein ausnehmend beeindruckender Kerl“, meint er schulterzuckend und breitet sich neben mir aus.

„Du wärst nicht die Erste, die ihr Herz an mich verliert.“

„Wenn dann eher einen kleinen Teil davon, aber das Ganze mit Sicherheit nicht.“

„Das trifft mich. Ich bin sensibel.“ Ein Lächeln zieht sich über sein gesamtes Gesicht. Er wackelt mit dem gesamten Körper bevor er sich seitlich zu mir dreht und die Matratze unter mir bewegt sich.

„Ach ja?“ Ich hebe meine Brauen und sehe ihn vom Kopf bis zu den Zehen an.

„Ja und wenn du frech wirst, überlege ich mir das mit der Wundersalbe noch einmal.“

„Das ist ein bisschen spät, meinst du nicht?“ Mit dem Zeigefinger deute ich auf mein Gesicht.

„So, wie ich dich kennengelernt habe, wirst du die auch in Zukunft brauchen. Auf dich muss man permanent achten, sonst stellst du Blödsinn an.“

„Frechheit. Ich habe noch nie bewusst etwas angestellt. Es ist eher so, als würde mich, seit ich mich euch angeschlossen habe, eine falsche Entscheidung nach der anderen verfolgen.“ Kurz kneife ich die Augen zusammen, dann, mustere ich ihn und drehe meinen Körper in seine Richtung.

„Ich glaube eher, dass sich mit deinem Herzen auch dein Hirn verabschiedet hat.“

„Was?“

„Na du und Akira ihr beide habt ...“

„Sprich besser nicht weiter. Auch wenn ich lädiert aussehe, habe ich genug Kraft in mir, um dich zu schlagen“, warne ich. Mit Zeigefinger und Daumen schnipse ich gegen seinen Oberarm. Er hebt abwehrend die Hände und rutscht ein kleines Stück zur Seite. „Ich bin ja schon still.“

„Musst du nicht. Ich will nicht, dass du still bist, auch wenn du Blödsinn erzählst. Du lenkst mich ab und das hilft mir dabei, nicht zu denken.“

„Ich sag ja Herz und Hirn.“

Ich knuffe ihn in die Seite, muss aber wieder grinsen. „Idiot.“

„Stets zu Diensten.“ Er deutet einen Salut an und lehnt sich zurück.

„Komm her, Prinzessin. Trink einen Schluck Tee, der hilft beim Nicht-Denken.“ Langsam richte ich mich auf und nehme ein paar Züge aus der Tasse, die er mir entgegenhält. Die Flüssigkeit ist längst nicht mehr heiß. Es schmeckt allerdings immer noch gut. Tatsächlich hat der Tee eine beruhigende Wirkung. Ich halte kaum noch meine Augen offen.

„Weißt du, im ersten Moment, in dem ich dich gesehen habe, wusste ich, dass du etwas Besonderes bist, und ich glaube, Akira ist es genauso gegangen. Eigentlich hat es jeder von uns sofort erkannt.“ Seine Stimme hört sich weit weg an und doch wieder ganz nah. Irgendwas stimmt nicht mit mir.

„Lennox? Ich, ich glaube ...“. Ich lalle. Ich weiß, dass ich lalle, aber wieso? Was ist mit mir los? Ist das eine neue Art der Vision?

„Schon gut, Prinzessin, nicht mehr reden. Mach die Augen ein bisschen zu und schlaf.“

„Nein, dann bin ich allein.“

„Ich bin bei dir, bis du wieder wach bist. Keine Angst.“

Das ist der Rest, den ich gebraucht habe, um in den Schlaf zu gleiten. Auch wenn ich nicht damit gerechnet habe, bleibe ich von Träumen verschont.

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Kapitel 5

Die Tür öffnet sich. Ich muss mich nicht bewegen, um zu wissen, dass Lennox wieder da ist. Hätte ich noch einen Funken Kraft in meinem Körper, würde ich ihn anschreien, damit er verschwindet, doch das schaffe ich nicht.

„Also, Prinzessin, ich habe hier Salbe, einen Kühlakku und einen Kräutertee.“

Meine Reaktion ist die eines Felsblocks. Ich starre an die Decke, ohne etwas zu erwidern. Unbeeindruckt kommt er auf mich zu und setzt sich neben mich. Er achtet nicht darauf, dass ich mittig im Bett liege und für ihn kein Platz ist. Mein Desinteresse übergeht er, indem er den Tiegel aufschraubt und eine Portion der Salbe auf meine Blessuren verteilt. „Morgen um diese Zeit wirst du kaum noch etwas davon sehen.“

„Das einzig Wichtige ist, dass wir Akira befreien“, flüstere ich.

„Nein. Nur wenn wir alle fit sind, haben wir eine Chance, ihn zu retten. Du musst gesund sein, um es mit Preston aufzunehmen. Ich dachte, das wäre dir inzwischen klar.“

„Mir geht es gut. Ich habe nur ...“

„Papperlapapp. Dir kann es nicht gut gehen.“ Er bedeckt die mit Creme versorgten Stellen mit einem Tuch und legt vorsichtig den Kühlakku darauf.

„So, das hätten wir. Willst du einen Schluck Tee?“

„Wie soll ich trinken? Ich kann mich kaum bewegen.“

„Du bist zickig, wenn du schlechte Laune hast. Hat dir das schon mal jemand gesagt?“

„Ein- oder zweimal.“ Trotz meines Versuchs, mein depressives Tief aufrechtzuerhalten, lässt sich ein Grinsen auf meinem Gesicht nicht verhindern. Kaum zu glauben, dass ich dazu überhaupt noch in der Lage bin.

„Na, wenigstens etwas. Jamie meinte, das mit dem Handy dauert noch ein bisschen und sie holen uns, sobald es funktioniert.“

„Was genau willst du mir damit sagen?“

„Für dich gibt es nichts zu tun, als dich auszuruhen.“ Er lächelt und stützt sich auf seinen Armen ab. Super. Genau das, was ich nicht wollte. Hier herumliegen und mich von meinen Gedanken quälen lassen.

„Du machst dir Vorwürfe wegen allem, was passiert ist. Richtig?“ Woher weiß er das?

„Nein.“

„Gut, es wäre nämlich vollkommener Quatsch, wenn du das tätest. Weißt du, ich kenne Akira schon lange und bin mir sicher, dass er alles wiederholen würde, wenn er die Wahl hätte.“

„Das bedeutet aber nicht, dass ich das ebenfalls würde.“

„Nicht? Du hättest dich beim ersten Mal also nicht auf Prestons Spiel eingelassen?“, will er wissen und zieht eine Augenbraue in die Höhe, während er mich mustert.

„Doch klar, aber ...“

„Dann hättest du dich nicht für Akira geopfert, als du dachtest, er wäre gekidnappt worden?“

„Das hätte ich natürlich. Das meine ich nicht und das weißt du“, fahre ich ihn an und rutsche zur Seite, um ihm ein bisschen mehr Platz zu geben.

„Du konntest von all dem, was geschehen ist, nichts beeinflussen. Du warst nicht einmal anwesend. Als wir uns Akira angeschlossen haben, kannten wir die Risiken und jeder von uns würde es wiederholen.“

„Ich denke nicht, dass du für Max sprichst. Der hätte mit Sicherheit anders entschieden. Er wusste damals nicht, dass er mit einem Loch mehr in seinem Körper auf der Intensivstation landet. Außerdem habt ihr nicht mit Preston gerechnet, das steht mit der Prophezeiung nicht im Zusammenhang.“

„Glaube mir, wir haben mit Schlimmerem als Preston gerechnet“, sagt er, und ich runzle die Stirn. Was ist schlimmer als das?

„Was Max betrifft, kennst du ihn nicht gut genug. Sprächest du von einem x-beliebigen Menschen, wären deine Einwände berechtigt, aber nicht bei ihm. Der Typ ist aus einem anderen Holz geschnitzt, glaube mir. Tamara ist bei der ganzen Sache so etwas wie ein Bonus. Wusstest du, dass er Fallschirmspringen und Bungee-Jumping macht?“ Bitte, was? Max? Der stille Typ, dem meine Freundin ihr Herz geschenkt hat?

„Nie im Leben, so was würde ich eher dir zutrauen.“

„Danke für die Blumen, aber lebensmüde bin ich nicht. Ich habe zwar schon so einiges angestellt, doch ich hätte viel zu viel Angst, dass sich der Fallschirm nicht öffnet. Max würde genauso wie Akira immer wieder so handeln, wie er es tat. Selbst wenn es drei weitere Löcher bedeuten würde. Das ist ihm egal. Was ihm nicht egal ist, ist Tamara und seine Freunde. Dabei hast du es auch irgendwie in die engere Auswahl geschafft, selbst wenn ich nicht ganz begreife, wieso.“

Japsend hole ich Luft. Wie gemein ist das denn?

„Heyyy.“

„War nur Spaß, beruhige dich. Dich kann man nur ins Herz schließen“, meint er und zwinkert schelmisch.

„Selbst, wenn das alles stimmt, gibt es trotz allem noch mindestens eine Person, die mich abgrundtief hasst, und ich das verüble ich ihr nicht mal“, flüstere ich und wende den Kühlakku zwischen meinen Fingern.

„Blödsinn! Tamara war am Ende ihrer Kräfte und du ein super Ziel, um Frust und Angst loszuwerden.“

„Ich habe eher das Gefühl, dass ich der Grund dafür bin“, sage ich ehrlich und meine Stimme wird rau und meine Augen feucht. Lennox dreht vorsichtig mein Kinn in seine Richtung, um mir in die Augen zu sehen. Es scheint, als wolle er bis auf meine gepeinigte Seele dringen.

„Du hast sie nicht erlebt, als ihr verschwunden wart. Deine nervige Freundin ist ziemlich einschüchternd, wenn sie wie ein Kasten Teufelchen auf und ab springt. Sie hat Befehle wie einer der größten Kriegsgeneräle erteilt. Tamara hätte Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, nur damit ihr wiederauftaucht. Ich glaube, hätte Preston sie statt dir in die Finger bekommen, er hätte sie mit Zinsen zurückgegeben.“

Im ersten Moment reiße ich zwar die Augen auf, doch irgendwie ist das gut vorstellbar und ich grinse.

„Möglich“, gebe ich zu und schaffe es nicht, meine Mundwinkel in ihre Ausgangsposition zurückzubewegen.

„Wenn es ihr besser geht, wirst du sehen, dass sie es gar nicht so gemeint hat. Du nimmst dir die Worte anderer ziemlich schnell zu herzen. Wir sollten wohl daran arbeiten, dass du ein dickeres Fell bekommst.“

„Ich mag mein Fell so, wie es ist, und für mein bisheriges Leben hat es völlig ausgereicht“, halte ich dagegen und recke das Kinn.

„Willst du etwas schlafen? Du siehst immer noch fertig aus.“

„Eigentlich nicht. Ich will nicht allein sein. Irgendwie gewöhne ich mich allmählich an dich und ich glaube nicht, dass meine Träume erholsam sein werden.“

„Verstehe. Ich bin ein ausnehmend beeindruckender Kerl“, meint er schulterzuckend und breitet sich neben mir aus.

„Du wärst nicht die Erste, die ihr Herz an mich verliert.“

„Wenn dann eher einen kleinen Teil davon, aber das Ganze mit Sicherheit nicht.“

„Das trifft mich. Ich bin sensibel.“ Ein Lächeln zieht sich über sein gesamtes Gesicht. Er wackelt mit dem gesamten Körper bevor er sich seitlich zu mir dreht und die Matratze unter mir bewegt sich.

„Ach ja?“ Ich hebe meine Brauen und sehe ihn vom Kopf bis zu den Zehen an.

„Ja und wenn du frech wirst, überlege ich mir das mit der Wundersalbe noch einmal.“

„Das ist ein bisschen spät, meinst du nicht?“ Mit dem Zeigefinger deute ich auf mein Gesicht.

„So, wie ich dich kennengelernt habe, wirst du die auch in Zukunft brauchen. Auf dich muss man permanent achten, sonst stellst du Blödsinn an.“

„Frechheit. Ich habe noch nie bewusst etwas angestellt. Es ist eher so, als würde mich, seit ich mich euch angeschlossen habe, eine falsche Entscheidung nach der anderen verfolgen.“ Kurz kneife ich die Augen zusammen, dann, mustere ich ihn und drehe meinen Körper in seine Richtung.

„Ich glaube eher, dass sich mit deinem Herzen auch dein Hirn verabschiedet hat.“

„Was?“

„Na du und Akira ihr beide habt ...“

„Sprich besser nicht weiter. Auch wenn ich lädiert aussehe, habe ich genug Kraft in mir, um dich zu schlagen“, warne ich. Mit Zeigefinger und Daumen schnipse ich gegen seinen Oberarm. Er hebt abwehrend die Hände und rutscht ein kleines Stück zur Seite. „Ich bin ja schon still.“

„Musst du nicht. Ich will nicht, dass du still bist, auch wenn du Blödsinn erzählst. Du lenkst mich ab und das hilft mir dabei, nicht zu denken.“

„Ich sag ja Herz und Hirn.“

Ich knuffe ihn in die Seite, muss aber wieder grinsen. „Idiot.“

„Stets zu Diensten.“ Er deutet einen Salut an und lehnt sich zurück.

„Komm her, Prinzessin. Trink einen Schluck Tee, der hilft beim Nicht-Denken.“ Langsam richte ich mich auf und nehme ein paar Züge aus der Tasse, die er mir entgegenhält. Die Flüssigkeit ist längst nicht mehr heiß. Es schmeckt allerdings immer noch gut. Tatsächlich hat der Tee eine beruhigende Wirkung. Ich halte kaum noch meine Augen offen.

„Weißt du, im ersten Moment, in dem ich dich gesehen habe, wusste ich, dass du etwas Besonderes bist, und ich glaube, Akira ist es genauso gegangen. Eigentlich hat es jeder von uns sofort erkannt.“ Seine Stimme hört sich weit weg an und doch wieder ganz nah. Irgendwas stimmt nicht mit mir.

„Lennox? Ich, ich glaube ...“. Ich lalle. Ich weiß, dass ich lalle, aber wieso? Was ist mit mir los? Ist das eine neue Art der Vision?

„Schon gut, Prinzessin, nicht mehr reden. Mach die Augen ein bisschen zu und schlaf.“

„Nein, dann bin ich allein.“

„Ich bin bei dir, bis du wieder wach bist. Keine Angst.“

Das ist der Rest, den ich gebraucht habe, um in den Schlaf zu gleiten. Auch wenn ich nicht damit gerechnet habe, bleibe ich von Träumen verschont.

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